Die Zauberin

Omi liebte es, Geschichten zu erzählen. Ich, die Enkelin, hörte fürs Leben gerne zu. Es waren nie grosse Romane, die sie zum Besten gab. Immerzu waren es die Geschichten unserer Familien, die Missgeschicke und Alltagserlebnisse, die Eheprobleme, die Geburten, die Todesfälle. Omi konnte aus dem Nichts etwas zaubern. Aus Leintüchern an der Wöschhenki wurde ein Schloss. Aus Karton eine Burg. Aus Tüchern ein Ballkleid. Jeder Spaziergang mit ihr wurde zu einer Weltreise. Omi konnte in allem Schönheit entdecken.

Als Omi demenzkrank wurde, drehte sich vieles um. Nun war plötzlich ich die, die wusste. Omi hörte zu ohne verstehen. Sie wunderte sich oft. Manchmal sagte sie: „Diese Geschichte kommt mir sehr bekannt vor. Ich kenne jemanden, dem das auch passiert ist.“
Jedes Mal, wenn wir im Pflegeheim vorbeischauten, erzählte sie uns ihre Erlebnisse. Nur leider schilderte sie diese in einer Sprache, die wir noch nicht verstanden.

Jetzt erzähle ich meine eigenen Geschichten und Omi kommt darin vor. Sie ist eine Erinnerung, die noch sehr präsent ist.

Meine Trauer um Omi erscheint mir wie eine schwarze Raupe, die sich langsam in einen Schmetterling aus weissen Federn verwandeln soll. Noch ist sie schwarz. Aber ich hoffe auf weiss.

Lebens-Bilder-Geschichten

Ich gehöre zu jenen Menschen, die gerne Fotos anschauen. In Bildern zeigt sich unsere Lebensgeschichte, die Vergangenheit und die Gegenwart, die im Moment des Fotografierens bereits verschwunden ist. Schon als kleines Mädchen waren mir Bilder lieber als Gespräche. Ich erinnere mich an Besuche bei Menschen, bei denen ich „fremdelte“ und vor denen ich Angst hatte, weil ich sie nicht kannte. Ich bat jeweils scheu ums „Fotialbum“, was meine Eltern nicht so anständig fanden.

Ich kriegte praktisch immer meinen Willen. Eine alte Frau, ein älterer Herr, sie alle setzten sich hin, mich an ihrer Seite und wir schauten gemeinsam ihr Album an. Durch die Geschichten, die mir die Menschen erzählten, fand ich meine Beziehung zu ihnen. Ihre Gesichter hab ich längst vergessen. Aber an ihre Erzählungen erinnere ich mich heute noch.

Menschen erzählen gerne ihre Lebensgeschichte(n). Es öffnet die Türe zu ihren Herzen. Schweres kann ausgesprochen werden, Schönes geteilt.

Auch mit Omi habe ich oft Alben angesehen. Ich erfuhr so vieles aus den Bildern. Omi erzählte vom Krieg, den sie als Kind in Wil SG überlebte. Keine grosse Sache möchte man meinen. Deutschland war weit weg. An den Hunger hat sie sich genau erinnert. Hunger ist das Schrecklichste, meinte sie. Sie erzählte von François, dem kleinen Franzosenjungen, den ihre Familie aufgenommen hatte. „Aber ihr wart doch schon fünf Kinder“, bemerkte ich. Omi lächelte mich an. „Meine Mutter sagte, wo es für fünf Kinder reicht, reicht es auch für sechs.“

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Ich sitze an meinem Schreibtisch im Atelier und schaue die digitalisierten Fotos von Omi Paula durch. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Die Natur wacht langsam auf. Dann sehe ich ein Bild von Paula, meiner Mutter und Henri. Sie stehen vor dem Atelierfenster und blicken in die Kamera. Fünfzig Jahre liegen zwischen uns.

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Geschichten erzählen

Was ich wirklich schlimm finde an Paulas Demenz ist ihr Erinnerungsvermögen, das langsam verloren geht. Als ich noch ein Kind und später ein Teenager war, konnte ich ihr stundenlang zuhören, wenn sie von meiner Kindheit und meinen Streiche erzählte. Es hat was unglaublich liebevolles, wenn man über sich Geschichten hört. Ich wusste früh, dass meine Oma mich über alles liebt. Ich liebte sie auch.

Meine Schwester und ich verbrachten alle Ferien bei ihr und Walter. Wir spielten von morgens bis abends, tollten ums Haus herum, gingen ins Schwimmbad und bauten uns aus Tüchern Hütten. Wir liebten es, mit Barri, dem Hund zu spielen. Er war ein wirklich guter Freund. Er war ein Erbstück von Henri und Rosa.

Als ich in die Lehre ging, stellte meine Oma mit Bedauern fest, dass meine Besuche bei ihr seltener wurden. Ich hatte viel weniger Ferien und wenig Zeit. Das Hüttenbauen und halbnackte Herumhüpfen ums Haus hatte ein Ende gefunden. Dann starb Barri. Er war ja auch schon ein alter Hund. Sein Tod war traurig.

Als nächstes starb mein Opa.

Wir erinnerten uns oft an seine Spässe während wir in der Küche sassen. Wie er uns Kinder liebevoll geärgert hat. Oma sprach sehr nachdenklich über ihn. Oft erzählte sie mir, wie sie über ihn nachgedacht hatte und wie sehr sie sich gewünscht hätte, friedlich mit ihm zusammen zu leben.

In jener Zeit sagte sie mir schon sehr oft den falschen Namen. Urseli. Der Name meiner Mutter. Sie entschuldigte sich immer sofort, wenn sie das getan hatte. Am Anfang ärgerte es mich, denn ich wollte nicht, dass ich sie an meine Mutter erinnere.

Dann starb meine Mutter.

Paula und ich trauerten gemeinsam, telephonierten stundenlang und redeten über unsere Gefühle. In jener Phase erzählte mir Paula sehr viel aus Uschis Kindheit. Es schien mit einem Mal alles präsent. Ich profitierte und lernte so meine verstorbene Mutter ganz anders kennen, was den Verlust noch schlimmer machte.

Einige Monate nach dem Tod meiner Mutter trennte ich mich von meinem damaligen Freund. Kurze Zeit später begann eine nächste Phase von Paulas Demenz. Sie brauchte Hilfe bei Medi einnehmen. Sie konnte nicht mehr alleine einkaufen gehen. Mich kannte sie noch. Ich war mit einem Male wieder ich selber.

In der Zeit vor dem Eintritt ins Pflegeheim wurde Paulas Kindheit unglaublich präsent. Sie wusste nicht mehr, dass sie ein Kind geboren hatte und verheiratet war. Sie wusste nicht einmal mehr, dass sie Mann und Tochter verloren hatte. Stattdessen lebte sie gefühlsmässig im Krieg. Sie hatte Angst. Sie verstand nicht mehr, was um sie herum passierte. Nachrichten hörte sie wenig. Der Radio war oft an. Dass gerade in der Zeit die Musikwelle abgestellt und der Sender nur noch via DAB empfangbar war, machte die Betreuung meiner Oma nicht einfacher. Einem über 80jährigen Menschen zu erklären, wie man ein Gerät mit Digitalanzeige und zu vielen Knöpfen bedient, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Wenn ich heute bei Paula vorbei gehe, bin ich wohl einfach ein nettes Gesicht, das sie an irgendwen erinnert. Meine Geschichte weiss sie nicht mehr. Sie kann noch immer sprechen, an guten Tagen reden wir fast wie früher. Doch es ist anders. Die kindliche Unbekümmertheit ist verflogen. Bald weiss nur noch ich, was war.