Sei (verdammt nochmal!) freundlich!

Sogar mein eigener Vater sagt manchmal, ich solle mich höflicher verhalten und das, obwohl er sehr ähnlich wie ich ist. Wir sind beide keine grossen Redner.

Ich kann sehr gut zuhören. Ich kann versinken, wenn mir jemand eine gute Geschichte erzählt. Ich sitze dann einfach da und lasse mich von den Worten berieseln.
Doch diese Begeisterung für Stimmen und Worte hat eine andere Seite. Ich ertrage keine (dummen) Menschen.
Ich kann nicht langweiligem Gesülze zuhören.
Noch sehr viel schlimmer ist meine Unfähigkeit, Höflichkeit zu heucheln.
Wenn mich etwas nicht interessiert, wende ich mich ab. Und zwar total.

Als ich noch ein Kind war (und kein Handy hatte), hatte ich immer meinen Block mit dabei. Ich nahm ihn hervor, wenn Dinge langweilig wurden. Sehr oft ging ich mit meinem Vater an Kaninchenausstellungen. Während er mit seinen Freunden diskutierte, schrieb und zeichnete ich. Dann liess ich mich weniger von ihren Worten ablenken, versank in meinen eigenen Gedanken, war aber immer mit einem Ohr bei ihnen.

Mein Ex fand dieses Verhalten meinerseits höchst störend und beleidigend. Mehr als einmal stritt ich mich mit ihm, weil er meinte, ich sollte mich gefälligst mal zusammen nehmen und freundlich sein. Freundlich sein. Ich verstehe es schlicht und einfach nicht.

Ich sage mit ruhiger Stimme „guten Morgen“ und „gute Nacht“. Ich öffne älteren Menschen die Türe. Ich helfe anderen in den Mantel. Wenn ich in einer Runde mit Wein anstosse, achte ich darauf, den Menschen in die Augen zu schauen oder einen Punkt auf der Stirn zu fixieren. Ich passe auf, dass ich nicht über Kreuz zuproste. Ich lächle, wenn jemand etwas erzählt und alle anderen um mich herum lachen. Ich mache mich lächerlich, wenn ich nachfrage. Ironie ist nämlich in meinem Fall Glückssache.

Andererseits ist es unpassend, wenn ich lachen muss, wenn jemandem ein Missgeschick passiert. Ich bin schadenfreudig. Auch das ist nicht unbedingt ein Ausdruck von sozialer Kompetenz.

Ich gebe mir Mühe, nicht immer das zu sagen, was ich eigentlich denke. Es stösst andere Menschen offensichtlich vor den Kopf. Aber oft kann ich nicht anders. Ich bemerke dann an der Reaktion meines Gegenübers, dass ich das so wohl besser nicht gesagt hätte.

Dieses Freundlichsein ist für mich ein Fremdwort. Ich fülle es mit Inhalten, die ich aus Benimmbüchern und Rückmeldungen entnehme. Ich lerne, dass ich beim Essen nicht telephonieren darf. Ich lerne, dass ich nicht zu laut reden darf. Ich gebe mir Mühe, nicht zu ernst zu schauen.

Aber manchmal ist es mir scheissegal.

Ich kann andere Menschen nicht einfach so anlächeln. Ich blecke nur meine Zähne. Ich kann nicht auf Kommando freundlich sein. Ich verstehe es einfach nicht. Und dabei denke ich immerzu, diesen Code werde ich knacken. Ich werde verstehen, was ich tun muss. Freundlich sein kann ja wohl nicht so schwierig sein.

Aber dann versagt meine Stimme und ich kann nicht mehr sprechen. Das passiert, wenn ich sehr traurig oder sehr wütend bin. Schreiben geht gottseidank immer.

Ich bin darauf angewiesen, dass mein Umfeld meine Sprachlosigkeit akzeptiert und meine Wörter liest. Aber das verlangt von meinen Nächsten ab, dass sie das Schweigen akzeptieren. Manchmal ist das wohl eine zu hohe Erwartung an ein Umfeld, das immerzu spricht.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Blogger-Themen-Tage.

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7 Gedanken zu “Sei (verdammt nochmal!) freundlich!

  1. Ich habe auch die Angewohnheit zu verstummen. Manchmal nur für Stunden, manchmal auch für Tage. Auch bei mir geht dann nur noch das schreiben.
    Wenn ich taubstumm wäre würden alle akzeptieren das ich nicht reden kann. Aber da ich es grundsätzlich beherrsche verstehen viele nicht wenn es nicht geht.
    Einmal schrieb jemand zu mir, ich müsse üben zu sprechen und nicht mehr zu verstummen.
    Daraufhin antwortete ich, das ich das nicht kann. DAS ist meine Behinderung. Sie würde ja auch nicht einem gehbehinderten sagen das er nur üben brauche weil er laufen lernen müsse.
    Es wäre manchmal schön wenn Menschen einen so akzeptieren könnten wie man ist…
    Eine Welt in der man #EinfachSein könnte.

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  2. Wow.

    Deine Sprachlosigkeit IST Deine Sprache. Deine Art mit der Realität um Dich herum umzugehen ist einzigartig. Dass sie nun für viele unpassend oder unfreundlich wirkt, ist nicht nur schade, sondern auch Ausdruck einer unglaublichen Armut im Geiste.

    Man hat Dir Regeln beigebracht, die Dir das Zusammenleben einfacher machen sollen. In Tat und Wahrheit soll es ‚uns‘ weniger unangenehm machen, dass Du anders siehst, anders fühlst, anders verstehst.

    Einfach sein.

    Sei einfach.

    Und bedenke vielleicht nur dies: ‚freundlich sein‘ soll keine Regel sein.
    Jeden in seinen Grenzen verstehen, ist schwer. ‚Wir‘ andere, die wir von Dir erwarten in sozialen Konventionen zu leben, wir… brauchen manchmal einen lächelnden Blick und eine unterstützende Geste, denn unsere Welt besteht aus Kampf und Krampf. Ohne Worte und ohne Reden verarmt uns die Seele.

    Wir… sind einfach noch nicht soweit ohne Worte zu sein.

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  3. Ich habe Dich nie getroffen aber aus Deinen Texten spricht eine warmherzige, vielschichtige, manchmal widersprüchliche, aufrichtige, intelligente und immer spannende Person, die kennenzulernen ich Lust hätte. Und wenn es dir in life grad die Sprache verschlagen hätte könnten wir einfach twittern.

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  4. kenn ick 🙂 Irgendwann definierte ich es als Angst. Aber nicht meine, sondern die der anderen. Ganz simpel: „Der schweigt, also hat er was gegen mich…“
    Ich lehne das mittlerweile übrigens nicht mehr komplett ab. Denn akzeptieren, wie jemand ist, heißt für mich auch: die anderen akzeptieren, die eben so ganz anders denken als ich. Die Lächeln und Smalltalk usw brauchen, um sich mit mir wohl zu fühlen, was sehr wichtig ist, wenn sie täglich stundenlang mit mir zusammengesperrt werden 🙂

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  5. Ich weiss mir das alles nicht so genau, aber meine inneren Ohren spitzen sich bei einer Beichte über andere, was wir ja alles selbst sind

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