Die konstante Begegnung mit dem Tod

Vor einem halben Jahr habe ich mit Bloggen über die Demenz meiner Oma Paula angefangen. Ich war an einem Punkt, wo ich nicht mehr über meine Gefühle reden konnte. Ich war nur noch müde, gefangen im Hamsterrad des Helfens, des Funktionierenmüssens und der Überforderung.

Das Schreiben hat mir gut getan.
Im Laufe der letzten Wochen konnte ich so auch immer wieder nachdenken.
Als wir Paula beim Umzug geholfen haben, mein Vater und seine Frau unterstützten mich dabei, fiel mir auf, wie sehr mein Vater litt. Er und Paula sind zwar Ex-Schwiegersohn und Ex-Schwiegermutter, doch irgendwie hat ihn ihre Demenz sehr betroffen.

Mein Vater fragt oft nach Paula.
Er stellt sich Fragen übers Leben und den Tod.
Ihr langsames von dieser Welt gehen, berührt ihn, denn auch er ist sich seiner Sterblichkeit mehr als bewusst. Er leidet seit zwei Jahren an Prostatakrebs.
Wie ich ist auch er kein Mann der grossen (gesprochenen) Worte.
Er lebt sein Leben und behält seine Gefühle für sich.

Umso heftiger ist es nun für mich, ihn heute im Spital zu besuchen. Ich bin mir mit einem Mal seiner Zerbrechlichkeit bewusst. Er wirkt zart. Dabei war er während vieler Jahre ein Ausdauersportler. Muskulös. Gross. Und nun liegt mein Vater, mein Held, in diesem riesigen weissen Bett inmitten von Apparaten. Er lächelt, als er mich sieht. Ich tue es auch, denn ich möchte ihm ja Mut schenken. Dennoch bin ich schockiert.

Wir reden über vieles. Er redet sehr viel. Er wählt seine Worte geschickt. So kenne ich ihn gar nicht. Das Morphium lockert seine Zunge. Er wiederholt sich. Ich höre zu. Halte seine Hand, die mir mit einem Mal so bleich erscheint.

Er erzählt von seinen Ängsten, die er vor der Operation von heute ausgestanden hat. Er hat mit seinem Leben abgeschlossen, sagt er. Er war bereit zu gehen. Jetzt ist er aber wach. Und lebt. Er schaut raus und freut sich auf den Frühling. Der Scheiss-Schnee soll endlich weg.

Ich sage ihm, dass er heute neu beginnt. Der Krebs ist rausgeschnitten. Fang bei Null an!
Er blickt mich überrascht an.
„Bei Null?“
Sascha und ich nicken.
Sascha sagt: „Vielleicht nicht ganz bei Null. Eher so nach Pubertät. Ist doch praktischer.“
Mein Vater grinst breit.
„Dann fange ich bei 20 an.“
„Vielleicht ohne die Rekrutensschule, grad nachher?“
Er grinst breiter.
„Ich habe meinen 20sten in der Rekrutenschule gefeiert. Oder eher nicht. Ich bekam nicht mal Ausgang. Das waren noch andere Zeiten.“
Ich nicke.
„Du hast sie gut gemeistert.“
Dann grinst er noch breiter.
„Also meinen 65sten Geburtstag morgen werde ich wohl auch nicht grossartig feiern. Ist wirklich fast wie als ich 20 war.“

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