Sterben

Meines Erachtens das wirklich Schlimme am Sterben an Leberzirrhose sind die Bewusstseinsschwankungen.
Dadurch, dass das Gehirn langsam vergiftet wird, weil die Leber die Giftstoffe nicht mehr filtrieren kann, funktioniert nichts mehr richtig.

Meine Mutter litt an Sprechstörungen. Obwohl sie während Monaten keinen Schluck Alkohol mehr getrunken hatte, lallte sie phasenweise schwer. Sie hatte ebenfalls Mühe zu schreiben.

Ein Erlebnis im Spital Frauenfeld hat mich besonders berührt:

Meine Mutter hat während ihres Spitalaufenthalts verzweifelt versucht „ihr Hirn in Schwung zu bringen“, wie sie es nannte. Dies tat sie mittels Kreuzworträtseln und Sudokus. Da sie allerdings nur noch schwer aufsitzen konnte, ihr Aszites behinderte sie stark, lag sie halb im Bett. Sie hatte früher immer ihre Rätsel auf den Knien gemacht. Doch dies war nun nicht mehr möglich.

Sie hatte versucht, die Rätsel auf der schräggestellten Nachttischablage zu lösen, doch da die Kanten alle abgeschliffen waren, rutschten die Zeitschriften immer wieder ab. Als ich dies bemerkte, brachte ich ihr Klebeband mit. Ich machte den Umband ihres Heftlis an der Fläche fest. Nun konnte sie endlich wieder in Ruhe rätseln.

Doch schon einen Tag später war damit Schluss. Auf Druck der Pflegenden musste sie ihre Zeitschrift wieder abnehmen, da das Klebeband störte. Ich wollte reklamieren, doch meine Mutter bat mich, nichts zu sagen, da sie Angst hatte, deswegen Probleme zu bekommen. Sie wusste genau, dass sie als Alki hier nicht wirklich respektiert wurde.

Ich habe nie verstanden, warum man einer Sterbenden dies nicht ermöglicht hat. Es macht mich heute noch wütend.

Als ich einige Tage später mit einem Pfleger über den Gesundheitszustand meiner Mutter sprach, sagte er: „Sie kooperiert nicht.“ Als ich ihn fragte, was er genau meint, erzählte er, dass sie sich weigere, herumzulaufen. Mein Argument, dass meine Mutter einen riesigen Aszites mit sich herumtrug, der ihr Mühe beim Atmen bereitete und sie noch einige Tage zuvor an der Schwelle des Todes gestanden hatte, liess er nicht gelten.

Für ihn war meine Mutter nichts als eine leidige, mühsame und unangenehme Patientin. Es tut mir heute noch leid, dass meine Mutter so viel Zeit in diesem Spital verbringen musste.

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