Mein Vater – der Marathon-Mann

Dass mein Vater genau jetzt, also vor zwei Wochen, verstorben ist, verwundert mich nicht. Er hat den Winter abgrundtief verabscheut. Er hasste das Schneeschippen, die Kälte, den Pflotsch auf der Strasse und im Treppenhaus. Wahrscheinlich hat darum in dieser unseren Familie, ausser mir, keiner jemals Wintersport betrieben.

Dass er Mitte November, am 19.November 2020 starb, war passend. Er hat fast 30 Frauenfelder Militärwettmärsche absolviert, das ist einer der härtesten Marathons überhaupt. Für mich als Kind war dieser Lauf die Quintessenz unseres Vater-Tochter-Daseins. Er rannte, ich drückte die Daumen, brachte mit meinem Töffli Getränke an die von ihm bezeichneten Stellen. Dazwischen kämpfte ich immer wieder mit meiner aufflackernden Angst, dass er es nicht schafft, nicht heil ins Ziel einläuft. Jahre zuvor verunglückte einer seiner Läuferkollegen schwer. Das ist mir damals echt eingefahren. Ich war immer nur einfach glücklich, wenn mein geliebter Vater über die Ziellinie lief und mich am Ende, total verschwitzt, umarmte.

Das Sterben meines Vaters gestaltete sich ebenfalls wie ein Marathon. Ehe wir uns versahen, trat er zu diesem seinen letzten Wettkampf an. Er war fest entschlossen, mit einem Endspurt über die Ziellinie zu laufen. Wir standen an seinem Bett, weinend und drückten ihm die Daumen, dass alles so kommt, wie er es wollte.

Als ich meinen Vater das letzte Mal sah, atmete er sehr schnell. Ich hatte zuvor schon einige sterbende Menschen gesehen und erlebt. Mein Vater war anders unterwegs. Ich bemerkte seine schnelle Atmung und musste an unzählige seiner Zieleinläufe denken, die ich als Kind erlebt hatte. Ich sass daneben, hilflos und gleichzeitig wissend: Es geht so zu Ende, wie es sein muss. Es ist sein letzter Marathon. Sein allerletzter Zieleinlauf.

Ach, geliebter Papi. Wie gerne würde ich dich jetzt umarmen, wenn du schwitzend hinter der Ziellinie angekommen bist, dir heissen Tee reichen und stolz auf dich sein. Du fehlst mir so sehr.