Meine Mutter und die grosse Demütigung

Meine Mutter ist bald sieben Jahre tot. Sie war und ist einer jener Menschen, vor denen ich trotz allem Erlebten grossen Respekt habe. Sie hat fürs Leben gerne gearbeitet. Schon mit 17 stand sie im Berufsleben. Sie hatte eine Anlehre als Verkäuferin in einer Haushaltsabteilung gemacht.

Weil sie in jungen Jahren eine wunderschöne Frau war, fand sie rasch einen Job als Serviertochter. So hat sie auch meinen Vater kennengelernt. Als sie verheiratet war, arbeitete sie als Kioskfrau. Auch diesen Job liebte sie. Sie war mit mir schwanger, als sich vor ihren Augen am Bahnhof Sirnach ein Mann vor den vorbeifahrenden Zug warf. Danach konnte sie nicht mehr dort arbeiten.

Sie wurde Hausfrau. Sie strickte und häkelte. Aber eigentlich war ihr langweilig. Nach dem Tod meines Bruders und der Geburt meiner Schwester zogen wir um und meine Eltern wurden Hauswarte einer grossen Schulanlage.

Sie arbeiteten viele Jahre gemeinsam. Diese Arbeit mag vielleicht gut bezahlt sein, aber sie fordert sehr viel Abgrenzung und eine dicke Haut, die meine Mutter bestimmt nicht besass. Meine Eltern trennten sich nach fast zwanzig Jahren Ehe. Ich habe noch heute das Gefühl, dass die beiden das früher hätten tun sollen. Meine Mutter, und auch mein Vater, blühten auf. Während mein Vater sich neu verliebte, fand meine Mutter einen Job in der Stadt.

Sie jobbte in drei Filialen von Denner. Sie sass an der Kasse, füllte Regale auf und war glücklich. Ich kriegte mit, dass man sie trotz hoher Arbeitspensen und ihrer absoluten Flexibilität, als Aushilfe entlöhnte. Das machte mich wütend. Sie hat nicht mal einen richtigen Arbeitsvertrag bekommen. Sie hat für den Rest ihres Lebens für einen verdammten Hungerlohn gearbeitet.

Irgendwann hat man sie entlassen. Sie war zu alt, zu alkoholkrank und passte nicht mehr zum neuen, Möchtegern-cleanen Denner-Image. Meine Mutter war selten krank, lief sauber herum und kam nie zu spät zur Arbeit. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen hat meine Mutter auch nie geklaut.

Dann geriet sie in die Schlaufe der staatlichen Arbeitslosenunterstützung. Sie musste, um ihren Wochenrhythmus zu wahren, im „Opdi-Werk“ antraben. Unter den Arbeitslosen, darunter viele entlassene Leute kurz vor der Rente, hiess die Institution „Bekloppti-Werk“.

Meine Mutter rief mich in jener Zeit oft an. Sie machte sich Luft. Es war für sie eine immerwährende Demütigung, Arbeiten zu verrichten, die man eigentlich an Menschen mit Behinderungen vergibt. Sie sagte: Ich verblöde hier noch. Warum kann ich nicht einfach arbeiten gehen?

Wir schrieben Bewerbungen. Aber manchmal kriegte sie bei der Absage nicht einmal mehr ihre teuer bezahlten Bewerbungsmappen zurück. Sie war verzweifelt.

Am Ende ihres Lebens geriet sie in die Sozialhilfe. Für meine Mutter, die immer sorgfältig auf ihr Geld geschaut hatte, war das schlimm. Ihre Kontoauszüge, ihre Zahlungsbelege lesen sich wie einziges Drama. Man behandelte sie auf dem Amt wie eine Aussätzige. Omi Paula steckte ihr manchmal Geld für Zigaretten zu, ermutigte sie, weiterzumachen. Paula war der unerschütterlichen Meinung, dass alles wieder gut kommt. Meine Mutter wurde schliesslich schwer krank, kam ins Spital, schliesslich ins Pflegeheim.

In jener Zeit hatte ich das Vergnügen, mit Mamis Dame vom Sozialamt zu sprechen.
Diese Sachbearbeiterin versuchte, mich wie ein Stück Dreck zu behandeln. Ich bemerkte das an ihrer Sprache. Ich habs mir nicht gefallen lassen und mich gewehrt. Das kam bei ihr nicht so gut an. Trotz allem versuchte ich für meine Mutter gut zu sorgen, musste auf Druck ihre Wohnung räumen. Die Sachbearbeiterin meinte, ob ich wirklich das Gefühl habe, dass das Amt soviel für meine Mutter bezahlen würde. Nach fast 40 Jahren Berufstätigkeit wurde meine Mutter behandelt, als wäre sie eine Betrügerin. Mir wurde übel und damals versiegte jeglicher Glaube an die staatliche Versorgung in mir.

Als meine Mutter starb, hatte die Sachbearbeiterin der Sozialhilfe Ferien. Sie rief mich dann einige Tage später gut gelaunt an und fragte mich, wie es denn so stehe in Sachen Wohnungsräumung.
Ich sagte, wie es aussieht, dass meine Mutter tot war und ich die Wohnung geräumt hatte. Alleine.
„Das hätten Sie doch nicht tun müssen“, meinte die Dame.

Für mich war diese Erfahrung eine Lehre. Sozialhilfe verdient den Namen nicht. Menschen, die auf diese Hilfe angewiesen sind, haben meistens nicht mehr viel, was ihnen geblieben ist. Da kann man mir nichts anderes erzählen.

Nachtrag:
Auf wundersame Weise gelangten damals Gläubiger meiner Mutter an meine Telephonnummer und Adresse. Ich nehme heute an, dass das Sozialamt alle Anfragen freundlicherweise an mich weitergeleitet hat. Ein Mitarbeiter der Stadt Frauenfeld hat mir bei der Todesmeldung dann sofort geraten, Mutters Erbe auszuschlagen, um nicht noch mehr Probleme zu kriegen, als mir die Damen des Sozialamts eh schon angetragen hatten.

Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich die Beerdigung meiner Mutter sowie Grabstein und Bepflanzung ihres Grabes selber bezahlen durfte. Wenn es nach dem Sozialamt Frauenfeld gegangen wäre, hätte ich die Asche meiner Mutter höchstens in die Thur kippen dürfen. #fail