Die Beinbruch-Angst

Ich hatte die letzten Jahre, als Paula noch alleine in ihrem Haus lebte, permanent Angst, dass sie irgendwann mal stürzt. Ihr Kreislauf ist nicht mehr der beste. Das Alter macht sich in ihren Beinen bemerkbar.

Manchmal bin ich nachts aufgewacht, weil ich fürchtete, sie läge jetzt am Fusse der steilen Treppe. Total hilflos. Wenn sie das Telephon nicht entgegennahm, malte ich mir die schlimmsten Szenarien aus. Mehr als einmal wollte ich einfach abends ins Auto sitzen und nachschauen, ob ihr was passiert ist.

Natürlich hätte ich damals schon drauf pochen können, dass sie ins Heim geht. Aber da sie das ablehnte, liess ich es.

Seit sie im Pflegeheim lebt, ist diese Angst weniger präsent. Ich weiss, dass immer jemand da ist und schaut, dass sie nicht davon läuft. Dass sie nun am Mittwoch im Heim gestürzt ist, und zwar so richtig heftig, war zu erwarten. Schnell hat sie Hilfe gekriegt, wurde ins Spital gebracht. Sie musste nicht lange unter Schmerzen leiden.

Ich mache niemandem einen Vorwurf, denn schliesslich ist meine Oma ein freier Mensch. Man kann sie nicht anbinden. Sie war immer jemand, der gerne draussen war.

Viel mehr macht mir das Nachher Sorgen. Wie wird sie sich erholen? Kann sie jemals wieder laufen? Oder ist dieser Bruch ihrer Gelenkpfanne, des Beckens und noch einiger weiterer Knochen eine Art Todesurteil?

Ich muss der Realität ins Gesicht schauen. Omi Paula ist 86. Wenn sich ihre Knochen wieder erholen, wird alles gut. Aber sonst muss ich akzeptieren, dass sie nun einen weiteren Schritt von mir weggeht.

Ich bin froh, dass Paula nach wie vor zuversichtlich ist. Sie liegt in ihrem Bett und wirkt zufrieden. Ich hoffe, das bleibt die nächsten Wochen so. Schliesslich bin ich jetzt noch nicht bereit, mein Omi loszulassen.

Paula im Spital

Das Spital rief mich heute vormittag an, damit ich Auskunft über Paulas Personalien gebe. Es ist ein seltsames Gefühl, zu erzählen, wo sie geboren ist, welcher Religion sie angehört und dass sie verwitwet ist. Paula erinnert sich nämlich nicht mehr daran.

Ich werde freundlicherweise weiter verbunden auf die Station, wo meine Oma Paula liegt. Dann, für einen kurzen Moment, kommt dieses alte Gefühl zurück. Die Angst.

Die Pflegende sagt sofort: „Sie sind die Enkelin!“ Ich bestätige dies überrascht und frage sie, warum sie das weiss. Sie sagt: „Ihre Oma hat nach Ihnen gefragt. Sie hat mir gesagt, dass Sie kommen.“

Ich sitze in meinem Büro und schlucke die Tränen herunter. Eigentlich wollte ich heute nicht ins Toggenburg. Ich hab soviel zu tun. Dann denke: Nein. Das kannst du nicht machen. Da erkennt sie dich mal wieder und du bist nicht da.

Also fahre ich mit meinem Auto und Sascha quer durch die Ostschweiz zum Spital, wo Paula liegt. Ich bin ganz froh, dass ich ihren Beistand am Krankenbett treffe. So hab ich das Gefühl, dass Paula ganz sicher nie alleine dasteht. Wir tauschen uns kurz aus.

Später kommt die Ärztin und informiert uns alle, was los ist. Paula hat sich mehrere Knochen gebrochen. Heute oder morgen ist vielleicht auch klar, ob Paula operiert werden muss oder ob man „konservativ“ behandelt; sprich: Paula kriegt Bettruhe und Schmerzmittel verordnet. Ich lache. Hart.

Paula löst die Situation auf ihre ganz eigene charmante Weise. Sie bittet die Ärztin sich neben mich aufs Bett zu setzen. Ich nehme mal an, dass sie uns grad beide für ihre Enkelinnen hält, was vom Alter her zutreffen könnte.

Später, als die Ärztin wieder gegangen ist, erzähle ich Paula von Köln, was sie durchaus lustig findet. Als ich fertig bin, fragt sie:
„Köln am Rhein?“
Ich nicke.
„Wo liegt Köln?“ fragt sie dann.
„Am Rhein.“
„Bist du sicher?“
„Ja, ich war ja da.“

Ich habe Paula eine kleine Flasche 4711 mitgebracht. Sie riecht am geschlossenen Flacon und meint: „So fein.“
Ich spraye ihr ein wenig Parfum auf die Hand. Das findet sie toll. Sie hält mir auch die andere hin und wedelt leicht durch die Luft.

Nach einer Weile sagt sie:
„Das ist so schön, dass wir uns mal wieder sehen. Das hätte ich nun nicht gedacht, dass du einfach hier vorbei kommst.“
Ich strahle.
„Muss ich ja, wenn du kunstvolle Stürze produzierst.“
Paula kichert.
„Ja. Das kann ich wirklich gut. Ich hatte nämlich ein paar Schutzengel.“
Das ist wohl wahr.