Der Osterbesuch

Der Besuch bei Paula ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung.
Ich fahre jeweils fast eine Stunde, bis ich bei ihr im Toggenburg bin. Der heutige Verkehr hat an meinen Nerven gezehrt. Das Wetter war gelinde gesagt scheisse. Ich konnte nicht einmal die schöne Gegend geniessen.

Dann sind wir da. Wie immer haben wir Paulas Lieblingslebensmittel eingekauft: Schoggi, Äpfel und Bananen. Sie freut sich. Ich überreiche ihr einen kleinen Osterhasen, den Paula sofort in die Arme nimmt und an sich drückt.

Sie sieht nicht gut aus. Sie hat dunkle Augenringe.
Paula springt in ihrem Zimmer herum und verräumt Gegenstände, holt neue hervor, verräumt anderes wieder von neuem. Sie schildert uns Fetzen von Erlebnissen. Dann will sie uns unbedingt etwas Wichtiges zeigen. Sie denkt laut nach, was es ist. Sie erzählt etwas von einer warmen Lampe und dem Esstisch. Bibeli?

Sie will uns „ihre“ Bibeli zeigen. Wir verlassen das Zimmer. Die Türe lässt sie offen.
„Das kann man hier einfach so. Und das Licht lasse ich auch an!“

Wir gehen mit ihr in den ersten Stock. Überall sucht sie ihre Hühnerküken. Sie frägt eine andere Heimbewohnerin, wo sie wohl sein könnten. Diese zuckt ratlos die Schultern. Dann will Paula wieder ins Zimmer. Sie kann sich in dem Haus nicht mehr orientieren.

Ich schlage ihr vor, dass wir in den Essraum gehen. Dort sind sie dann auch, die Bibeli. Paula hat riesige Freude und erklärt uns sofort, dass die Bibeli dann aber nicht immer hier bleiben könnten. Sie tut dies in einer Art und Weise, wie sie mir schon als Kind die Tatsachen des Lebens erklärt hat.

Wir gehen zurück in ihr Zimmer. Sie steht erstarrt vor ihrem Zimmer.
„Wer war in meinem Zimmer? Und wer hat das Licht angemacht?“
Ich werfe Sascha einen vielsagenden Blick zu.

Wir bleiben eine Stunde. Dann ist meine Energie am Ende. Wir umarmen uns ganz fest und ich muss Paula zehn Mal versprechen, dass wir auch wieder kommen. Sie drückt mich an sich und kitzelt mich am Rücken. Auch das hat sie vor über 30 Jahren das letzte Mal getan, wenn sie mich jeweils nach dem Baden mit dem Frottiertuch abrubbelte. Wir lachen.
Sie sagt: „In meinem Monat werde ich 85. Du hast eine sehr alte Mutter, weisst du das?“
Ich nicke.

Auf dem Heimweg spreche ich nicht. Ich muss daran denken, dass auch ich vielleicht einmal dement werde. Ich hasse diese verfluchte Demenz, die mir den Menschen nimmt, den ich so sehr all die Jahre geliebt habe und mir unerbittlich aufzeigt, wo meine eigenen Grenzen sind.

Ostern mit Paula

Ich erinnere mich gut an unsere Osterfeste. Das Haus im Toggenburg war umgeben von hunderten von Primeliwolken, Tulpen und Osterglocken. Paula machte sich oft schon am frühen Morgen daran, für uns Osterhasen, Ostereier und Nestli zu verstecken.

Manchmal half auch Opa mit. Der versteckte dann die von Paula sorgsam verborgenen Geschenke von neuem. Noch heute, zwanzig Jahre später, warten bestimmt noch irgendwo auf dem Gelände Osterhasen darauf, entdeckt zu werden.

Unsere Kindheit im Toggenburg war friedlich und fröhlich. Ich kann noch heute den Geruch von frischem Moos, dem Wasser aus dem Bach, den Kräutern und den Duft von frischem Kaffee aus Paulas Küche ausmachen, wenn ich nur daran denke.

Doch dieses Jahr wird es anders. Paula lebt über ein halbes Jahr schon nicht mehr in ihrem Haus. Es ist nicht verwahrlost, denn ich habe mich darum gekümmert. Der harte Winter half mir dabei. Bald schon werden die Blumen blühen. Die Wiese wird wieder grün. Paulas Anwesenheit fehlt.

Ich soll mit ihr nochmals ins Haus, damit sie den Abschied besser begreift. Wieder ist Schnee gefallen. Es ist, als ob die Jahreszeiten sich dagegen wehren, dass sie dem Haus „Lebewohl“ sagt.