Vom Loslassen Teil 256

Manchmal muss man eben loslassen können, das sagte schon meine Mutter. Sie hielt sich selten dran. Meinen Bruder hat sie nicht los gelassen und er sie irgendwie auch nicht. Die gescheiterte Ehe mit meinem Vater hat sie lange verfolgt. Von meinem Tochter-Boot aus konnte ich das damals nicht verstehen. Heute ist mir das schon klarer.

Auch das Leben wollte sie nicht loslassen. Sie liebte es. Meine Schwester und mich liess sie gehen. Als Teenager fühlte ich mich sogar gezwungen, aus ihrem Leben zu treten. Das tat weh. Ich bin heute noch neidisch auf Töchter, die es gut mit ihren Müttern haben. Ich wollte, ich wäre eine davon.

Meine Mutter hat in Sachen Haare immer kurzen Prozess gemacht. An ihrer Hochzeit trug sie ihr langes, gerades, starkes Haar bis weit unter die Schultern. Sie war eine wunderschöne, junge Frau.

Nach meiner Geburt hat sie ihre Haare geschnitten. Sie wurden danach immer kürzer. Später färbte sie sie dann auch. Sie trug sie in allen möglichen Farben. Sie legte grossen Wert, trotz aller Geldprobleme gegen Ende ihres Lebens, dass sie eine „anständige“ Frisur trug. Voller Stolz zeigte sie mir jeweils ihre jeweiligen Kurzhaarfrisuren.

Als sie meine Schwester geboren hatte, war sie 30 Jahre alt. Als meine Mutter starb, war sie 56; 20 Jahre älter als ich jetzt.

Heute habe ich meine Haare geschnitten. Es ist das erste Mal seit sechseinhalb Jahren, seit Mamis Tod, dass sie so kurz sind. Reichten sie vorher bis unter die Schultern, sind sie nun nur noch kinnlang. Sie sind ungefärbt, obwohl ich natürlich weiss, dass eine Frau meines Alters die weisse Strähne verdecken sollte.

Ich muss daran denken, dass ich an Mutters Sterbebett gesessen bin und gewartet habe. Da sah ich zum ersten Mal, dass sie weisses Haar hatte. In all den Jahren habe ich das nicht bemerkt. Ich beschloss, mein Haar auch nicht mehr zu färben. Am liebsten hätte ich es mir abgeschnitten. Kahl. Der Gedanke kommt mir immer, wenn ich etwas loslassen muss. Ich denke an den Frühling. Der Wind bläst mir um die Ohren. Der Dutt ist ab. Vielleicht sind es die Sorgen und die Trauer auch bald.

3 Gedanken zu “Vom Loslassen Teil 256

  1. «… obwohl ich natürlich weiss, dass eine Frau meines Alters die weisse Strähne verdecken sollte.»
    Quatsch mit Sosse! Eine Frau sollte das tun, wonach ihr ist, und wenn du deine Haare nicht färben willst, dann solltest du dich nicht schuldig fühlen deswegen. Manchmal nervt es doch irgendwie, dass einem dauernd suggeriert wird, dass Frauen gefälligst erst nach dem neunzigsten Geburtstag weisse Haare haben dürfen. Ich bin ungefähr zehn Jahre jünger als du und habe bereits viele graue Haare — seit dem 24. Geburtstag kommen sie in Scharen daher. Manchmal sind sie gefärbt, manchmal nicht. Im Moment sind die kurzen Haare rund um den Kopf in ihrem Normalzustand (dunkelbraun mit grau drin), die langen sind violett mit ein bisschen blau und am Ansatz auch schon recht grau. So ist es halt.

    Es ist ein schönes Gefühl irgendwie, wenn der Wind durch die vom Schneiden leichter gewordenen Haare fahren kann, nicht?

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  2. Ich schäme mich nicht meiner weissen Haare wegen. Im Gegenteil. Ich liebe sie, weil sie mich daran erinnern, dass ich verloren habe, was ich liebte. Das ist jedes weisse Haar wert. Paula war bis Ende 60 schwarzhaarig. Ich mochte ihre Haare immer sehr. Meine Haare haben die Farbe verfaulenden Strohs.

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  3. Haare haben einen sehr starken symbolischen Charakter.
    Gerade im Zusammenhang mit Trauer ist das Abschneiden (oder Ausreissen) des Kopfhaares aus vielen Kulturen rund um die Welt bekannt.

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