Die stumme Krankheit

Als meine Oma Paula noch ein Kind war, wurde sie sehr krank. Sie beschrieb es mir immer wieder, denn es gab wohl ein Davor und ein Danach. Sie erzählte, sie wäre zum Schwimmen gegangen. In der Nähe von der Mühle, wo sie aufwuchs, gab es einen Teich. Paula sagte, sie hätte bemerkt, dass irgendetwas anders war.

Das Fieber kroch in ihrem Körper empor. Paula sagte, sie hätte eine Hirnhautentzündung bekommen. Sie konnte sich später nicht mehr an alles erinnern, nur, dass sie schreckliche Schmerzen hatte. Bei diesen Schmerzschüben hat sie sich die Haare vom Kopf gerissen und furchtbar geschrien. Ihre Eltern steckten sie trotz ihres Alters von vielleicht zehn Jahren in einen Kinderwagen und ihre Geschwister schoben sie so herum.

Sie konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, dass der Arzt regelmässig vorbei kam. Sie zeigte mir ein tiefes Loch an ihrer Hüfte. Dort soll er vereitertes Gewebe herausgenommen haben. Ich weiss nicht, wie schwer es um sie gestanden hat, aber ich nehme an, Paulas Eltern haben damit gerechnet, dass sie stirbt. Wie muss das damals, anfangs des Zweiten Weltkrieges, für diese armen Menschen gewesen sein?

Paula erzählte, dass sie offenbar nicht mehr reden konnte. Nur noch Laute seien aus ihrem Mund gekommen, obwohl sie es so sehr versucht hat.
Der Arzt aber sagte zu ihr: „Paula, wenn Du „Herr Dokter, Herr Dokter, hinderem Ofä hockt er“, sagen kannst, dann kriegst du einen Wunsch erfüllt.“

Paula versuchte es immer wieder. Eines Tages schaffte sie es. Ich weiss nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie konnte endlich wieder sprechen. Das kleine Mädchen wünschte sich nichts sehnlicher als einen kleinen Verkaufsladen. Den kriegte sie auch.

Der kleine Verkaufsladen ist mintfarbig gestrichen, gemacht aus festem Holz. Die bald 80 Jahre sieht man ihm nicht an. Kleine Ladenregale. Sogar die Verkaufsprodukte sind noch vorhanden. Ich habe es von ihr anvertraut bekommen.

Eine Geschichte aber wusste Paula noch: einige der Päckchen waren gefüllt mit Schokoladebohnen. Ihre kleinen Brüder spielten damit und assen alles auf. Ihre Gesichter waren mit Schokolade verschmiert.

Paula hat sich damals, als ich noch ein Kind war und im Spital lag, mit viel Liebe um mich gesorgt. In der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte empfinde ich sehr viel Dankbarkeit, dass meine Oma diese schwere Krankheit in der Kindheit überlebt hat.

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