In den 90er Jahren liessen sich meine Eltern nach fast zwanzig Jahren Ehe scheiden und – mein Vater bekam das Sorgerecht für mich und meine Schwester. Das mag heute vielleicht keinen mehr wundern, aber in jenen Jahren war es eine Sensation, dass ausgerechnet ein Mann seine Kinder zugesprochen bekam.
Für mich war das eine ungeheure Erleichterung, denn ich hätte nicht mit meiner alkoholkranken Mutter zusammenleben wollen und sie wohl auch nicht mit mir. Dennoch stelle ich heute in Gesprächen mit meinem Vater fest, dass diese ganze Sache nicht so einfach über die Bühne gegangen ist.
Mein Vater erzählte mir, dass für ihn diese Monate der Scheidung ausserordentlich belastend waren. Er durfte sich gar nichts zu Schulden kommen lassen, denn sonst wären wir Kinder einfach „weg“ gewesen.
Seine Worte machen mich wütend.
Es hat scheinbar genügend Menschen in jener Gemeinde gegeben, die meinem Vater auf die Finger geschaut haben und die darauf achteten, ob er auch ja erziehungsfähig ist. Dass meine Mutter vorher jahrelang psychisch angeschlagen war, alkoholisiert und aggressiv gegen mich vorgegangen ist, haben diese Menschen aber wohlweisslich ignoriert. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Eine Nachbarin und meine Omi waren die einzigen Menschen, die sich dafür interessiert haben, wie es uns erging, erzählte er mir. Mein Vater empfindet diese Jahre noch heute als grosse Ungerechtigkeit. Ich stimme ihm zu.
Das einzig Positive daran ist, dass ich dank dieser Situation wohl ein Männerbild intus habe, das nicht besonders konservativ ist. Für mich ist es sonnenklar, dass Männer sich liebevoll für ihre Kinder einsetzen und dass sie ein Sorgerecht kriegen können nach einer Scheidung. Für mich ist auch klar, dass Frauen nicht automatisch die besseren Eltern sind, nur weil sie Frauen sind. Wie auch?
Es ist eine persönliche Sache und hängt auch von der Lebensgeschichte eines Menschen ab, ob er fähig und müssig ist, seine Kinder zu erziehen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich neben meiner Mutter, die mich geboren hat auch noch einen Vater habe, der bereit war, für mich zu sorgen.