Ich habe lange nichts mehr von Omi geschrieben. Das hat aber weniger damit zu tun, dass ich sie nicht sehe, sondern dass es nichts zu erzählen gibt. Zumindest dachte ich das.
Omi schläft viel. Als wir sie das vorletzte Mal besuchen gingen, schlief sie tief und fest.
Sie wirkt zufrieden. Sie liegt auf ihrem Entspannungssessel, derweil der Fernseher läuft. Im Raum dösen noch mehr Menschen. Es herrscht eine friedliche Stimmung im Ruheraum zwischen diesen sehr alten Menschen. Manchmal denke ich daran, was haben sie alles noch zu erzählen haben.
Was habt ihr alles erlebt?
Welche Geschichten werden irgendwann mit euch gemeinsam für immer einschlafen?
Wenn Omi wach ist, reden wir. Sie thront in ihrem Ruhesessel, die Füsse hochgelagert, wie eine sehr alte Königin. Sie begrüsst uns wie früher, wenn wir sie im Haus besuchen kamen. Sie bietet uns Bier und Kaffee an und entschuldigt sich, dass sie keine Guetzli vorrätig hat. Sie gestiert sanft mit den Händen, ohne ihre Beine zu bewegen. Wir küssen uns und ich bemerke, wie sehr sie noch immer Berührungen und Küsschen mag.
Früher sind wir uns manchmal einfach unvermittelt in die Arme gefallen und standen einige Minuten eng umschlungen da. Sie hielt mich fest. Sagte Dinge wie: „Schön, dass du da bist.“ oder „Jetzt bleiben wir einfach so stehen.“
Das tun wir heute nicht mehr. Omi kann ohne Rollator nicht mehr stehen und ich traue mich nicht mehr, sie einfach zu umarmen, denn sie ist sehr zerbrechlich geworden.
Wir reden noch immer, aber unsere Dialoge klingen heute wie Dada-Gedichte. Omi bricht Sätze und Wörter ab. Fügt sie zu neuen Buchstabengebilden zusammen. Ihre Mimik ist noch gleich wie früher. Sie entschuldigt sich jedes Mal, dass sie sich nicht mehr erinnern kann und jedes Mal gibt es mir einen Stich ins Herz.
Vor einigen Tagen durchforstete ich die Fotoschachtel und stiess auf ein Photo, das ich vor bald 25 Jahren gemacht habe. Omi schaut aus dem Küchenfenster. Sie trägt ihren hellblauen Pullover, die schwarzen Haare liegen in Dauerwellen an ihrem Gesicht. Omi lacht und winkt mir zu. Ich muss oft an dieses Bild denken, weil es genau das ausdrückt, was ich empfinde: ein Abschied auf Raten.
Nach 30 Minuten gehen wir jeweils wieder. Länger halte ich es nicht (mehr) aus und längere Besuche machen auch keinen Sinn. Sie hat ihr Leben und ich meines. Wir geben uns Küsschen und ich verspreche ihr jedes Mal, dass ich wieder komme. Jedes Mal versucht sie mich zu überzeugen, doch noch nicht zu gehen. Jedes Mal denke ich daran, dass irgendwann der Tag da ist, wo ich ins Pflegeheim gerufen werde und nur noch ihre körperliche Hülle da ist und Omi verschwunden ist.
Gefällt mir mag ich hier nicht wirklich drücken – viel zu sehr spüre ich den Schmerz über das, was immer mehr entschwindet. Es zerreisst einem das Herz… Und doch: Für Omi ist eben doch irgendwie friedlich, weil du das annimst, was sie (noch) geben kannst, ohne mehr zu fordern. Weil du es aushälst, dass auch ein Teil von ihr immer noch spürt, dass sie mehr davon will (auch wenn es sie anstrengt) – und es dosierst, dass es für beide erträglich ist. Umärmel von Ferne!
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abschied auf raten, ja das ist es irgendwie. und ja, irgendwann kommt der tag. darum sollte man wenn man geht immer das sagen, was einem am herzen liegt, dass man es dann nicht bereuen muss.
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danke dir. Manchmal macht es mir einfach Angst, was ist, wenn sie nicht mehr da ist.
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das sehe ich genau wie du. Genauso!
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Der Abschied von meiner Tante und meiner Mutter war ja kürzer, von daher weiss ich natürlich nicht, wie das bei dir sein wird. Ich erinnere mich heute mehr an die schönen Zeiten und sehe die beiden vor meinem inneren Auge nur selten ans Bett gefesselt, sondern wieder lebenslustig und humorvoll. Nicht, dass ich die letzte Phase verdrängt hätte – auch da gab es ja, wie du weisst, sehr innige Momente. Und doch: In meiner Erinnerung sind beide wieder sehr lebendig …
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Es ist gleich wie bei meiner Grosstante, auch sie lebte in ihrer Welt. Es wurde auch für mich immer problematischer sie zu besuchen. Doch merkte ich, dass sie sich immer freute, wenn jemand aus der Familie kam. Heute lebt sie in unseren Erinnerungen weiter.
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Ich kann mich noch erinnern, wie ich meine Oma L. zum letzten Mal gesehen habe: am Fenster, im blauen Morgenmantel. Ich habe mich noch gewundert über die dunklen Schatten um ihre Augen, und dass meine Mutter sagte: sie sieht wieder aus wie als junges Mädchen. Viel später habe ich das Foto gefunden, auf das meine Mutter sich bezog, und es hat gestimmt: meine Oma, die ich nur als lachende oder schimpfende dicke Frau kannte, sah am Tag vor ihrem Tod aus wie auf ihrem Abiturfoto: blass, zart, melancholisch und mit riesigen dunklen Augen.
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