Die Hügel über unserem Haus sind schneebezuckert. Der Winter hält Einzug und die Geschäfte feiern schon jetzt Weihnachten. Ich bin ein bisschen traurig, weil ich den Herbst gerne mehr ausgekostet hätte. Ich liebe die kräftigen Farben. Orange. Rot. Grün. Warmes Braun. Die Früchte. Der Winter passt mir nicht. Er ist mir zu kalt und grau.
Der Spiegel meines Alterns fehlt mir. Meine Mutter ist tot. Aber Omi Paula lebt noch. Ich besuche sie. Sie thront wie immer in ihrem bequemen Sessel im Pflegeheim. Sie wirkt rosig und zufrieden, als wäre sie ein grosses, altes sattes Baby. Neben ihr sitzt eine andere alte Dame, die ich bisher noch nie gesehen habe. Sie unterhält sich mit Omi, die fröhlich vor sich hin sinniert. Das freut mich, denn ich weiss auch, dass es andere Bewohner gibt, die sich einfach nur über Omis Wortfetzen aufregen.
Natürlich erkennt mich Omi nicht. Sie begrüsst uns freundlich und ich tue mich schwer, sie zu berühren. Wie soll das gehen: jemanden zu küssen, zu umarmen und zu streicheln, der einen nicht mehr kennt? Ich habe Angst davor, dass sie Angst vor mir hat. Ich bin eine Fremde geworden in ihrem Leben.
Wir sprechen ein wenig miteinander. Die andere alte Dame klinkt sich in unser Gespräch ein und lässt mich wissen, dass meine Omi für sie ein Vorbild ist.
„Sie ist so tapfer!“ sagte die Dame.
Omi liegt neben ihr und strahlt sie zufrieden an.
„Ich meine, wie sie das alles trägt. Nie beschwert sie sich. Jetzt, wo sie gar nichts mehr kann.“
Es stösst mir sauer auf. Omi soll nichts mehr können?
Ja, sie kann nicht mehr laufen. Sie kann nicht mehr alleine aufs Klo.
Und ja, sie braucht Hilfe bei den alltäglichsten Dingen. Aber dieses Nichtsmehrkönnen klingt so negativ, so würdelos. Sie ist trotz Pflegebedürftigkeit ein Mensch mit Gefühlen, Träumen und Wünschen.
Omi und ich reden weiter. Ich sage Omi, dass sie im Mai 89 Jahre alt wird.
Sie blickt mich an mit ihrem wachen, grau-braunen Augen und sagt:
„Ich glaube, a da Fäscht chumm ich dänn nöd.“ **
Der Stich in meinem Herzen ist messerscharf, aber nicht weniger schmerzhaft.
**Übersetzung:
„Ich glaube, an diesem Fest werde ich nicht teilnehmen.“
oh wow, das ist hart…
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Wie wahr! Sie kann noch soo viel. Und selbst, wenn sie „nichts“ mehr können sollte, kann sie SEIN. Und das kann ihr erst der Tod nehmen. Ich wünsche euch, dass ihr noch viele wunderbare Begegnungen habt, bevor sie geht.
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Seien wir ehrlich. Sie kann ganz viel von dem, was uns selbstverständlich ist, nicht mehr. Viel von dem, woran wir unsere Würde festmachen, geht nicht mehr. Das ist so. Und das tut weh. Uns. Weil wir denken, wie wir uns fühlen würden. Ohne es zu wissen. Wir greifen voraus und argumentieren von heute. Wie es wäre, wären wir da, wissen wir nicht. Können es nicht.
Ja, sie kann vieles nicht mehr. Wohl das meiste dessen, was wir können und als wichtig erachten. Sie hat anderes. Es hilft wohl, das zu erkennen. Und zu schätzen. Und sich daran zu halten. Und zu wissen, dass wir auch ganz vieles nicht können, es wohl nur ebenso ausblenden. Für die eigene Würde. Für das eigene Überleben.
Keiner kann alles. Was die perfekte Welt wäre? Wohl, wenn wir jeden Menschen nehmen könnten, wie er wäre. Wenn wir sähen, was er kann. Nicht, was er nicht kann.
Alles Liebe dir und deiner Oma.
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