Unsagbare Wut

Heute war ich zum ersten Mal richtig wütend, als ich aus dem Pflegeheim wegfuhr. Das ist mir noch nie passiert.

Ich wollte nach dem Einkaufen kurz bei Paula vorbei schauen. Nach dem Besuch letzte Woche habe ich das Gefühl, die Zeit rinnt mir wie Sand zwischen den Händen davon. Ich will ihre Stimme hören, ihre Hand streicheln, sie umarmen. Ich weiss doch nicht, wann es das letzte Mal sein wird.

Als ich ins Fernsehzimmer trete, sitzt Omi nicht wie gewohnt in ihrem Königinnensessel. Der Platz ist leer. Es gibt mir für einen Moment einen Stich ins Herz. Ich gehe zur nächsten Pflegenden. Omi ist noch im Zimmer. Sie war fast nicht aufzuwecken.

Ihr Zimmer ist im dritten Stock. Ich klopfe an die Türe, höre die Stimme einer anderen Pflegenden. Ich warte, bis sie mich hineinruft. Omi sitzt auf dem Bett. Sie trägt weder Brille noch ihr Gebiss, ist aber wach. Sie wirkt sehr müde und sehr, sehr alt, aber irgendwie auch wie ein kleines Mädchen. Die Pflegende hilft Omi beim Anziehen der Brille und Einsetzen des Gebisses.
Die Pflegende hat Omi eben im Bett gewaschen und unterstützt Omi mit lieben Worten beim Transfer auf den Rollator. Omi hat fast keine Kraft mehr. Sie hat Mühe, ihre Hände und ihre Beine zu koordinieren. Zum ersten Mal, seit sie im Pflegeheim ist, tut es mir wirklich weh, sie so zu sehen.
Omi macht tapfer mit, aber ich bemerke, dass sie gar nicht richtig versteht, was sie tun soll und es sie gleichzeitig beschämt, dass sie so viel Unterstützung braucht. Ich denke: alt werden ist manchmal richtig Scheisse.

Wir gehen alle nach unten in den Essraum, weil es in 10 Minuten Mittagessen gibt. Cordon bleu mit Pommes. Omi hat das immer sehr gerne gegessen und oft für mich und meine Schwester gekocht. Ich setze mich neben sie. Ich traue mich nicht, sie anzufassen.
Omi blickt in die Ferne. Das hat sie früher oft getan, wenn wir am Bahnhof auf den Zug gewartet haben. Ihr linkes Auge ist entzündet. Das Lid hängt ein wenig herunter.
Schliesslich sage ich: „Omi, wenns nachher Essen gibt, gehe ich wieder. Dann lasse ich dich in Frieden essen.“ Omi dreht langsam ihren Kopf und schaut in meine Richtung. Sie lächelt.

„Aber Sie müssen doch nicht extra meinetwegen gehen. Bleiben Sie doch.“ Sie schaut wiederum in die Ferne. Ich reisse mich zusammen, dass ich nicht sofort weine. Es tut mir unendlich weh.

Die anderen Bewohner – ich habe übrigens gelernt, dass es jetzt politisch korrekt ist „Bewohnende“ zu sagen. Ich frage mich, welcher politisch korrekte Vollidiot sich sowas Saublödes ausdenkt – kommen jetzt langsam an den Tisch. Ich bin umgeben von lauter achtzigjährigen, langsam gehenden Menschen. Ich bilde mir ein, dass mich einige mitleidig anschauen. Ich stehe auf und frage Omi, ob ich sie noch umarmen darf.
Sie blickt mich an und nickt: **„Jo, da dörfsch du. Ich ha da gärn, wenn du mir zum Abschied äs Küssli gisch.“ Ich umarme ganz sanft mein zerbrechliches, altes Omi. Sie drückt mir einen sanften Kuss auf die rechte Wange und sagt: „Gross bisch worde.“

Dann gehe ich. Im Auto laufen mir die Tränen herunter. Ich bin so unsagbar wütend auf die Demenz, die mir Omi einfach nimmt. Ich bin wütend auf alles und jeden und auf Gott, der nicht existiert. Ich bin wütend auf die, die mich trösten wollen und sagen, es ist doch alles nicht so schlimm und auf die, die sagen: das geht vorbei. Ich bin wütend auf all jene, denen Menschen wie Omi am Arsch vorbei gehen und die denken, sie wären über alles und jeden erhaben.

Ich atme tief durch und fahre nach Hause.

**“Ja, das darfst du. Ich mag es gern, wenn du mir zum Abschied einen Kuss gibst.“ / „Gross bist du geworden.“

5 Gedanken zu “Unsagbare Wut

  1. warum wut? – da brauchst du doch ein „target“ dafür, jemanden, auf den oderr etwas, worauf deine zielt. hilflosigkeit träfe es meiner ansicht nach besser, oder ohnmächtiger schmerz.
    aber deine stimmung kann ich nachvollziehen:
    „Aber er hatte keinen, dem er dafür die fäuste ins gesicht schlagen konnte“ (Wolfgang Borchgert: „Die drei dunklen Könige“)

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  2. Gerade diese Deiner Beiträge hinterlassen mich immer ein wenig ambivalent. Ich verstehe die Wut auf die Demenz, die Ohnmacht und zugleich schilderst Du die vorgefundene Situation auf eine so zarte Weise. Ich zitiere: „Ich stehe auf und frage Omi, ob ich sie noch umarmen darf.
    Sie blickt mich an und nickt: **„Jo, da dörfsch du. Ich ha da gärn, wenn du mir zum Abschied äs Küssli gisch.“ Ich umarme ganz sanft mein zerbrechliches, altes Omi. Sie drückt mir einen sanften Kuss auf die rechte Wange und sagt: „Gross bisch worde.“

    …und bei aller Demenz ist Deine Omi Deine Omi, auch wenn sie Dich in Deiner heutigen Wirklichkeit nicht genau zuordnen kann. Aber sie weiß genau, dass sie Dich liebt und das zu spüren erscheint mir so wichtig.

    Ich weiß aus Deinen Beiträgen, wie sehr Du darunter leidest, dass Deine Omi vermeintlich nicht weiß, wer Du bist. Aber ich glaube, sie weiß es und vielmehr noch: Du bist quasi ein Konglomerat aller lieben Menschen ihres Lebens.

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