Heute morgen bin ich aufgewacht. Ich hatte sechs Stunden geschlafen und fühle mich wie überfahren. Mir tut alles weh. Meine Brust schmerzt.
Ich stehe auf, ziehe mich an und fahre zur Arbeit. Alles ist grau.
Sie ist nicht mehr da, denke ich.
Auf der Arbeit mache ich das Nötigste, dann fahre ich wieder nach Hause. Ich höre Musik und höre sie nicht.
Sascha und ich fahren ins Pflegeheim. Wir müssen Omis Sachen sortieren und nach Hause nehmen. Alles ist bereits fein säuberlich in Kisten verpackt. Ich muss jetzt nur noch alles durchschauen, ob nichts fehlt und entscheiden, was ich mitnehmen will. Omis Leben passt in einige Schachteln.
Ihre Kleider lasse ich dort. Ihre Plüschtiere, ihre Briefe, die Fotoalben, ihr Bild nehme ich mit. Der Schnee fällt in dicken Flocken. Ich verabschiede mich von den Pflegenden, bedanke mich für das, was sie für Omi getan haben. Vor der Türe weine ich. Einer von vielen Abschieden.
Dann fahren wir zurück und laden alles zu Hause ab. Vor über vier Jahren ist Omi von hier ausgezogen. Jetzt kommen ihre Gegenstände zurück, doch sie nicht. Ich trage ihren Verlobungsring an einer Kette um den Hals. Sie hat ihn fast 70 Jahre an ihrer Hand gehabt.
Wir gehen auf die Gemeinde, um ihren Tod zu melden.
Wieder spreche ich aus, dass sie nicht mehr ist.
Welche Bestattung? Urnengrab? Erdbestattung?
Die Dame von der Gemeinde ist sehr, sehr freundlich.
Ich fühle mich wohl, trotz des traurigen Besuchs.
Das Bestattungsamt hat eine wunderschöne Broschüre erstellt, woran wir alles denken müssen.
Das ist sehr hilfreich.
Dann kriege ich den Schlüssel des Katafalks. Dort ist Omi in ihrem Sarg aufgebahrt.
Wir machen uns auf den Weg zur Kirche hinauf.
Natürlich frage ich mich, ob ich Omi nochmals so sehen will.
Ich entscheide mich dafür.
Ich will begreifen, dass sie tot ist.
Als ich sie da im Sarg liegen sehe, mit den Gegenständen, die ich ihr mitgeben durfte, weine ich erneut. Omis sterbliche Hülle liegt dort. Zwischen uns eine dicke Scheibe.
Ich begreife, dass Omis Geist wirklich weg ist.
Ich denke: fast vierzig Jahre hatten wir uns. Und nun liegst du dort drinnen und ich lebe.
Und: der Tod hat nichts Schreckliches. Die Trennung von einem Menschen, der einem ans Herz gewachsen ist, tut weh.
Im gleichen Katafalk waren damals meine Urgrosseltern und auch Opa Walter aufgebahrt.
Ich erinnere mich dunkel.
Es ist friedlich hier drinnen.
Draussen findet eine Beisetzung statt.
Ich lerne: katholische Beisetzungen sind morgens um 10 Uhr. Die reformierten um 14 Uhr.
Wir verlassen Omi und ich weiss, das ist das letzte Mal, dass ich sie sehe.
Später telefoniere ich mit dem katholischen Pfarreiamt.
Die Dame ist sehr nett und ihre lieben Worte trösten mich.
Wir machen ein Datum für die Beisetzung ab, das sie aber noch mit dem Pfarrer besprechen muss.
Der Pfarrer, der vor zehn Jahren meine Mutter verabschiedet hat, wird nun auch Omis Beerdigung begleiten. Damals, als Omi und ich zu ihm gingen, um Mamis Beerdigung zu besprechen, hat er Omi getröstet und mich darauf vorbereitet, dass ich irgendwann auch an Omis Grab stehen werde. Er hatte natürlich recht. Omi hat das damals sehr gelassen verarbeitet.
„Es isch eso.“
Mir gehen tausend Dinge durch den Kopf. Ich bin müde und fahrig zugleich.
Ich bin traurig und gleichzeitig glücklich, dass Omi nicht mehr leiden muss.
Ich wünschte, sie wäre noch da.