Die dunkle Sache

Als ich noch ein kleines Mädchen war, vielleicht so elf oder zwölf Jahre alt, spielte ich fürs Leben gerne mit den nicht ins Album eingeklebten Familienphotos. In dieser einen Kiste lagen nicht nur unscharfe oder überbelichtete Bilder, sondern auch Zettel, alte wertlose Geldscheine und – ein Brief.

Ich war neugierig. Ich las ihn.
Nach einigen Minuten wurde mir schlecht.
Ich hatte das Gefühl, etwas ganz Verbotenes gelesen zu haben. So legte ich den Brief zurück in die Kiste. Doch noch am selben Abend, meine Mutter stand in der Küche und kochte, musste ich ihn einfach wieder hervor holen. Ich kroch auf allen Vieren durch die Stube und holte ihn aus dem untersten Schrank unserer dunklen Wohnwand.

Ich las ihn nochmals durch.
Natürlich kann ich nach bald dreissig Jahren den Inhalt nicht mehr genau wiedergeben. Doch soviel bleibt mir in Erinnerung: Ein junger Mann, nennen wir ihn Angelo, schrieb meiner Mutter einen Brief, in dem er sich mehrere Male entschuldigt, ihr weh getan zu haben.
Ich war verwirrt. Der Brief war mit einem Datum versehen: 1968. Da war meine Mutter gerade mal 17 Jahre alt.

Ich legte den Brief erneut zurück. Dann ging ich in die Küche. Ich fragte meine Mutter, so unbefangen wie möglich, nach Angelo. Meine Mutter drehte sich um und schaute mich wütend an.

„Was hast du gemacht? Du hast den Brief gelesen!“, schrie sie mich an.
Ich schreckte zusammen und nickte.
Meine Mutter rannte wie eine Furie an mir vorbei in die Stube.
„Dieser Schrank ist für dich tabu!“
Sie war wirklich sehr wütend.
Dann schickte sie mich in mein Zimmer.

Einige Tage später, meine Mutter war an der Arbeit, ging ich erneut zum Schrank und öffnete ihn. Der Brief war weg.

Als meine Mutter 2007 im Sterben lag, fand ich in ihrer Wohnung ihre an Angelo gerichteten Liebesbriefe. Sie war wirklich sehr verliebt in ihn gewesen. Sie beschrieb ihr Leben bei meinen Grosseltern, ihren Ärger, ihren Drang nach Freiheit. Während meine Mutter in ihrem Pflegebett auf den letzten Tag wartete, las ich erneut ihre Briefe durch. Ich konnte nicht anders. Beim nächsten Besuch im Pflegeheim fragte ich sie nach Angelo. Meine Mutter schüttelte müde den Kopf.
„Du hast meine Briefe gelesen.“
Ich nickte.
Dieses Mal wurde sie nicht mehr wütend.
Doch sie erzählte mir nichts von dieser einen Liebe. Sie schwieg.

Ein paar Wochen später war meine Mutter tot. Meine Oma Paula und ich trauerten. Paula besass noch ihre ganze Erinnerung. Wir sassen oft beisammen und sprachen über früher. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und fragte sie nach Angelo.

Oma Paula blickte mich nachdenklich an.
Dann sagte sie:
„Es ist eine schlimme Sache passiert. Deine Mutter war verliebt.“
Ich verstand kein Wort.
„Deine Mutter ist einfach weg gegangen. Und dann kam sie wieder. Mit blutverschmierten Kleidern. Stumm.“
Ich verstand.

Ist es eine Schande, über ein Unrecht zu reden oder zu schreiben?
Ich bin die Einzige, die noch davon weiss, was passiert ist.
Meine Oma hats vergessen und meine Mutter ist tot.
Dennoch betrifft es mich.

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ca 1970

 

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