Paula und die unbekannte Frau

Meine Oma Paula war immer ein aussergewöhnlicher Mensch. Mit ihr herumzureisen machte mir immer sehr Spass. Als Kind und später als Teenager war ich immer besonders stolz auf meine junge und liebe Omi.

Bei meiner Geburt war sie 49 Jahre alt. Sie befand sich im besten Alter, um ihrer Ansicht nach alle Fehler, die sie an meiner Mutter begangen hatte, wiedergutzumachen. Ich lüge nicht, wenn ich sage: kein Mensch hat mich jemals so gern gehabt wie sie. Ich war ihr grösster Schatz und sie meiner.

Aber ich bemerkte auch Schattenseiten. Omi konnte nie das Haus verlassen, ohne auf halbem Weg noch einmal zurück zu gehen. Sie eilte zur Haustüre und schaute nach, ob sie sie auch wirklich geschlossen hatte. Als Opi Walter noch lebte, kehrte sie zurück, um zu schauen, ob sie den Strom abgestellt und den Schlüssel mitgenommen hatte. Manchmal geschah dies mehrmals und es dauerte nur schon eine halbe Stunde, bis wir das Haus verlassen hatten.

Für uns Kinder war dieser Spleen einfach nur nervig.

Als Paula älter wurde und nur noch ich da war, versuchte ich, sie zu unterstützen. Geduld musste ich langsam lernen. Nichts ging mehr schnell. Ein kurzer Wocheneinkauf dauerte einen Tag. Ich bemerkte, wie ich jeweils wütend wurde, wenn sie wieder etwas suchte. Die Knöpfe in ihren Taschentüchern. Der heilige Christopherus. Alle sollten helfen, dass sie sich erinnert.

Aber wir wussten es wohl beide besser. Die Erinnerung kam nur noch so, wie sie es wollte. Das Portemonnaie finden? Keine Chance. Stattdessen lebte Oma in der Zeit, in der ihre Eltern noch lebten.

Ich verschwand langsam. Nach dem Tod meiner Mutter bleichte mein Name aus. Ich hiess nun Ursle wie meine Mutter in jungen Jahren. Den Namen der Toten zu hören, tat weh. Mehr als einmal bin ich weinend nach Hause gefahren.

Omi Paulas Erinnerung verschwand und mit ihr auch ich, Zora, aus ihrem Leben. Doch irgendwie machte etwas anderes Platz. Wir waren mit einem Mal Paula und ich ihr Gegenüber. Ich, die Frau ohne Namen, mit tausend Namen, ich auf der Suche nach mir selber. Danke, Paula.

 

zora sofa omi

Omi und ich ca. 1978

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