Omi Paula lebt seit Oktober 2012 im Pflegeheim. In einigen Wochen wird sie 88 Jahre alt.
Sie hat sich lange gegen einen Umzug gewehrt. Sie fühlte sich nicht alt. Sie hatte ihren eigenen, grossen Haushalt, ihren Garten, ihren Tagesablauf. Ich wollte sie auch nicht dazu zwingen, denn ich bin ich der Meinung, dass Zwang etwas vom Schlimmsten ist, das man einem Menschen antun kann.
Ich setzte auf Omis Vernunft.
„Vernunft?“, wirst du vielleicht fragen.
Ja. Vernunft. Selbst Menschen mit einer Demenzerkrankung können denken, fühlen und vor allem Entscheidungen treffen. Sie brauchen etwas Hilfe, Liebe und Geduld.
Ich glaube, Geduld und Liebe sind das Wichtigste, das man einem demenzkranken Menschen entgegenbringen kann.
Wenn jemand an Demenz erkrankt, verändert sich so vieles. Das Gewohnte scheint verändert. Angehörige, die andauernd an einem Menschen herum reklamieren, ihn zurechtweisen, ihn klein machen und so demütigen, machen alles nur noch schlimmer.
Vielleicht war es mein Geschenk, dass ich seit vielen Jahren mit Menschen mit geistigen Behinderungen arbeiten darf. Ihr Verhalten ist manchmal auf den ersten Blick so unverständlich, so fremd, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als seine eigene Sicht auf das Leben immer wieder zur Seite zu stellen und sich aufs Gegenüber einzulassen und nachzufragen.
Mir fielen Omis veränderte Verhaltensweisen früh auf. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Omi sagte oft: „Warte nur, bis du so alt bist wie ich.“
Ich sprach immer wieder ihren Gesundheitszustand an. Ich machte mir grosse Sorgen, dass sie stürzt, Schmerzen erleidet oder aber überfallen wird. Ich sagte ihr, ich halte es fast nicht aus, dich hier so zu sehen. Bei allem aber war mir klar, dass es ihre Entscheidung ist und nicht meine.
Als Omi sich entschloss, umzuziehen, war die Sache emotional nicht ausgestanden. Wenn jemand dreissig Jahre am gleichen Ort lebt, kann man ihn nicht einfach umpflanzen. Es braucht Behutsamkeit und Verständnis. Schliesslich muss sich ein Mensch von seinem bisherigen Leben verabschieden.
Mir schien, als stürbe Omi ein wenig. Ihr ganzes Leben zog während der Umzugsphase an ihr vorbei. Die Erinnerungen waren präsenter als die Gegenwart. Ich habe sehr viel gelernt über mich, über sie und unsere Familie. Ich bin dankbar, trotz der vielen Tränen und den Sorgen, dass ich sie auf diesem Weg begleiten darf.
Heute ist Omi sehr glücklich. Sie wirkt sehr alt und gleichzeitig kindlich. Sie lacht oft und wirkt auf mich gelassen. Natürlich mache ich mir Gedanken, was uns alles noch erwartet. Wie das Ende sein wird. Doch Omi sagte immer: Jetzt ist ein schöner Moment. Geniessen wir ihn.
In Anbetracht dessen, was ich hier gerade erlebe, frage ich mich ehrlich, ob deine Oma unter dem Strich nicht glücklicher ist als es A. war, die bis kurz vor ihre, Tod noch ganz klar im Kopf war, aber seit über 50 Jahren so verbittert … Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir alle nicht wissen, wie es morgen oder übermorgen um uns stehen wird.
LikeGefällt 1 Person
Deine Kraft und Dein Wille, dem Ablauf des Lebens seine eigene Souveränität zu lassen, sind bewundernswert, und ich habe das Gefühl: sie wachsen noch. Möge es Dir beschieden sein, Deiner Omi Paula ein glückliches und schmerzfreies Ende – wenn es denn nach Gottes Willen soweit sein wird – zu ermöglichen. Ich wünsche Dir Ruhe und Gelassenheit. Möge es gelingen.
LikeLike
„Ja. Vernunft. Selbst Menschen mit einer Demenzerkrankung können denken, fühlen und vor allem Entscheidungen treffen.“ Sehr schön gesagt. Demenz hat ja nichts mit Dummheit oder Unvernunft zu tun.
LikeLike