Freitag

Die Rauhnächste sind vorbei.
Omi lebt noch.
Ich bin froh, dass sie noch da ist.

Es ist Freitagmorgen
Omi liegt in ihrem Pflegebett.
Alle zwei Stunden wird sie von den Pflegenden umgelagert, damit sie keine Druckstellen am Körper bekommt. Sie kriegt Schmerzmittel.
Ich sitze da und weine nicht.
Ich rede mit ihr. Erzähle ihr von unserer Reise nach Berlin, dem Ausflug nach Zürich in den Zoo.
Ich sage ihr, wie glücklich sie mich gemacht hat.

Sie öffnet langsam ein Auge. Sie schaut an die Decke.
Ihr Auge ist grünbraungrau. Genau wie meines.
Sie will etwas sagen, doch aus ihrem Mund kommt kein Laut.
Ich frage sie, ob es ihr gut geht. Sie drückt ein wenig meine Hand.
Hast du Schmerzen?
Keine Bewegung.

Für einen Moment lang befällt mich die Hoffnung, dass das Fieber einfach wieder verschwindet und wir in einigen Tagen wieder gemeinsam im Fernsehzimmer sitzen. Aber das ist in Anbetracht ihres aktuellen Zustands eine Illusion. Trotzdem hoffe ich. Innerlich. Irgendwie.

Ich bin im Zweifel. Ich möchte jede Minute mit ihr geniessen.
Ich würde so gerne nochmals mit ihr über früher reden.
Wir haben soviel gemeinsam erlebt.
Aber ich will nicht, dass sie leidet.

Das ist wohl die grösste Angst, die man als Angehöriger durchlebt, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Die Vorstellung, dass das Gegenüber leidet, ist furchtbar.

Andererseits weiss ich aber auch, dass mein Omi einen harten Grind hat. Sie hat immer alles im Leben so gemacht, wie sie es für richtig hielt. Auch wenn es anderen nicht gepasst hat. Vielleicht darf ich ihr auch einfach vertrauen, dass sie dann geht, wenn sie es will.

Vernunfttrunken

Omi Paula lebt seit Oktober 2012 im Pflegeheim. In einigen Wochen wird sie 88 Jahre alt.
Sie hat sich lange gegen einen Umzug gewehrt. Sie fühlte sich nicht alt. Sie hatte ihren eigenen, grossen Haushalt, ihren Garten, ihren Tagesablauf. Ich wollte sie auch nicht dazu zwingen, denn ich bin ich der Meinung, dass Zwang etwas vom Schlimmsten ist, das man einem Menschen antun kann.

Ich setzte auf Omis Vernunft.
„Vernunft?“, wirst du vielleicht fragen.
Ja. Vernunft. Selbst Menschen mit einer Demenzerkrankung können denken, fühlen und vor allem Entscheidungen treffen. Sie brauchen etwas Hilfe, Liebe und Geduld.
Ich glaube, Geduld und Liebe sind das Wichtigste, das man einem demenzkranken Menschen entgegenbringen kann.

Wenn jemand an Demenz erkrankt, verändert sich so vieles. Das Gewohnte scheint verändert. Angehörige, die andauernd an einem Menschen herum reklamieren, ihn zurechtweisen, ihn klein machen und so demütigen, machen alles nur noch schlimmer.

Vielleicht war es mein Geschenk, dass ich seit vielen Jahren mit Menschen mit geistigen Behinderungen arbeiten darf. Ihr Verhalten ist manchmal auf den ersten Blick so unverständlich, so fremd, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als seine eigene Sicht auf das Leben immer wieder zur Seite zu stellen und sich aufs Gegenüber einzulassen und nachzufragen.

Mir fielen Omis veränderte Verhaltensweisen früh auf. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Omi sagte oft: „Warte nur, bis du so alt bist wie ich.“

Ich sprach immer wieder ihren Gesundheitszustand an. Ich machte mir grosse Sorgen, dass sie stürzt, Schmerzen erleidet oder aber überfallen wird. Ich sagte ihr, ich halte es fast nicht aus, dich hier so zu sehen. Bei allem aber war mir klar, dass es ihre Entscheidung ist und nicht meine.

Als Omi sich entschloss, umzuziehen, war die Sache emotional nicht ausgestanden. Wenn jemand dreissig Jahre am gleichen Ort lebt, kann man ihn nicht einfach umpflanzen. Es braucht Behutsamkeit und Verständnis. Schliesslich muss sich ein Mensch von seinem bisherigen Leben verabschieden.

Mir schien, als stürbe Omi ein wenig. Ihr ganzes Leben zog während der Umzugsphase an ihr vorbei. Die Erinnerungen waren präsenter als die Gegenwart. Ich habe sehr viel gelernt über mich, über sie und unsere Familie. Ich bin dankbar, trotz der vielen Tränen und den Sorgen, dass ich sie auf diesem Weg begleiten darf.

Heute ist Omi sehr glücklich. Sie wirkt sehr alt und gleichzeitig kindlich. Sie lacht oft und wirkt auf mich gelassen. Natürlich mache ich mir Gedanken, was uns alles noch erwartet. Wie das Ende sein wird. Doch Omi sagte immer: Jetzt ist ein schöner Moment. Geniessen wir ihn.

Warten.

Seit vier Wochen warte ich auf den Bescheid, was den Hauskauf betrifft. Die Zeit verrinnt. Sand zwischen meinen Fingern. Nichts passiert.

Ich weiss es; Geduld ist nicht meine Stärke.
Doch vier Wochen ohne eine Nachricht ist zermürbend.
Mein Leben scheint still zu stehen.
Es scheint die Betreffenden nicht zu kümmern.
Nichts ist wichtig.

Inzwischen ist es Spätsommer geworden. Noch vor einem halben Jahr hing ich der Illusion nach, jetzt mit dem Umbau zu beginnen. Doch ich besitze nichts. Die Küche ist leer. Der Keller schimmelt.

Ich arbeite. Atme. Schreibe.
Meine Freizeit investiere ich in das Haus, das mir nicht gehört und von dem ich nicht mal weiss, ob ich je drin wohnen werde.
Gottes Mühlen mahlen langsam, so sagt man.
Ich zweifelte immer dran. Ich glaube nicht an Gott.

Stattdessen reisse ich die Kalenderblätter ab. Warte. Es wird Herbst. Es wird kalt und nichts geschieht. Wut verkneife ich mir. Ich berufe mich auf mein Gerechtigkeitsgefühl, welches aber hier nichts zählt.

Zuversicht, sagt mein Herz. Druck aufsetzen, sagt mein Kopf. So nicht. Aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu warten. Von Freiheit ist hier keine Spur. Ich bin nicht mehr als eine Nummer.

Herzweh

Ab morgen arbeite ich wieder. Die grossen Ferien sind vorbei. Ich freue mich, meine ArbeitskollegInnen wieder zu sehen. Trotzdem schwingt auch Wehmut mit, denn in den letzten drei Wochen hab ich so viel Zeit im Haus verbracht, geräumt, geputzt und gearbeitet. Ich verbrachte nach fast zwanzig Jahren Unterbruch mal wieder eine Nacht unter seinem Dach.

Jetzt, wo mich der Alltag wieder hat, werde ich dort weniger Zeit verbringen können. Ich versuche nicht daran zu denken, denn es tut mir weh. Ich weiss, dass ich mich nicht vierteilen kann.

Als ich heute mit Sascha und seiner Schwester im Haus war, wurde mir bewusst, wie viel Potential in seinen Mauern steckt. Die Geschichten meiner Vorfahren hängen in den Wänden. Sie begleiten mich im Alltag. Doch noch etwas anderes geschah:

Wir sassen in der Küche und diskutierten. Da fiel mir ein, dass ich jetzt, mit 37 in derselben Situation bin wie Paula vor über 17 Jahren mit 69. Die Welt, das Haus, steht mir offen. Ich kann über mein Leben bestimmen. Ich kann das Haus entrümpeln und neuen Wind wehen lassen.

Ich habe heute den Küchenschrank neu eingeräumt. Er war mein Pièce de résistance. Ich wagte mich nicht daran, Omis Tassen zu berühren, ihre Teller, ihre Beggeli, ihre Gläser. Ich habe abgewaschen, sortiert und abgestaubt. Ich habe ihre Pfanne entkalkt. Es war nicht einfach,

Die nächsten Wochen werden nicht einfach. Geduld ist nicht meine Stärke. Noch soviel ist zu tun. Der Herbst kommt. Der Winter. Und ich arbeite irgendwo im Thurgau, fern des Hauses, tagein tagaus. Aber mein Herz schlägt schon jetzt ganz stark im Toggenburg.

Sommertraum

Vor einem Vierteljahr bin ich davon ausgegangen, dass das Haus im Juli mir gehören würde. Ich hab mich getäuscht. Noch heisst es warten.

Manchmal hab ich das Gefühl, die Zeit rinnt zwischen meinen Händen davon und ich stehe da und kann gar nichts tun. Ich bin jetzt im besten Alter, um den Garten zu bestellen und mein Haus zu renovieren. Abhängig zu sein von anderen widerstrebt mir aufs Tiefste.

Mitte Juli habe ich Ferien. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dann das Haus zu räumen. Solange es mir nicht gehört, sind mir die Hände (und das Herz) gebunden.

Mein Vater hat mir heute gesagt, wie grosse Mühe er hat, dass ich ein renovierungsbedürftiges Haus kaufe. Ich wurde wütend. Wäre ich ein Mann und hätte ich Frau und Kinder, wäre wohl alles anders.

Ich bin eine Frau, die anpackt. Kein Huscheli. Ich will endlich mein Haus, um dort zu leben, den Garten bepflanzen und Omi Paula öfters sehen.

 

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Geduld

Wiederum sind zwei Wochen vergangen.
Ich arbeite. Mein Leben eilt an mir vorbei.
Während ich im Thurgau lebe, steht das Haus im Toggenburg
und wartet. Auf mich. Es wird Sommer.
Die Johannisbeeren sind bald bereit zur Lese.
Doch ich bin hier.

Im Sommer hat das Haus einen besonderen Zauber. Überall ist es drückend heiss, doch seine Mauern kühlen. Als Kind dachte ich, das Haus wäre verzaubert. Ich möchte auf der Terrasse sitzen und stricken. Oder die Nähmaschine auf den Vorplatz heraustragen. Die Katze darf an der Sonne liegen.

Ich jedoch sitze hier im Thurgau.
Das Haus ist weit weg, Paula ebenso.
Ich bin fleissig, doch nicht im Haus.
Bald ist Johannisbeerenlesezeit.

Zerfliessende Tage

Während ich mich hier mit dem Alltag herumschlage, manchmal fluche, wenn ich zuviel oder zulange arbeite, lebt meine Oma im Pflegeheim. Ihre Tage gehen langsamer vorbei. Das liegt aber nicht daran, dass sie kein Programm hätte.

Nein.
Seit sie nicht mehr in ihrem Haus lebt, kann sie sich ihren eigenen Bedürfnissen widmen. Sie kann im Pflegeheim jederzeit mit jemandem reden, was ihr vorher nicht möglich war.

„Geniess dein Leben, du hast nur eines“, sagte sie früher oft zu mir, „aber vergiss dein Omi nicht.“

Wie könnte ich das je?

Gerade jetzt, wo es ihr gesundheitlich nicht super geht, bin ich oft in Gedanken bei ihr. Ich wünschte, ich könnte endlich in ihrem Haus leben. Dann hätte ich mehr Zeit für sie. Doch stattdessen sitze ich hier, arbeite, putze die Wohnung, mache die Wäsche und träume von meinem noch brachen Garten.

Während ich herumhetze, wartet sie auf das Ende. So ist es nämlich. Sie weiss es. Ich weiss es auch. Daran ist nichts Schlimmes. Ich hoffe nur, ich habe noch genügend Zeit.