Freitag

Die Rauhnächste sind vorbei.
Omi lebt noch.
Ich bin froh, dass sie noch da ist.

Es ist Freitagmorgen
Omi liegt in ihrem Pflegebett.
Alle zwei Stunden wird sie von den Pflegenden umgelagert, damit sie keine Druckstellen am Körper bekommt. Sie kriegt Schmerzmittel.
Ich sitze da und weine nicht.
Ich rede mit ihr. Erzähle ihr von unserer Reise nach Berlin, dem Ausflug nach Zürich in den Zoo.
Ich sage ihr, wie glücklich sie mich gemacht hat.

Sie öffnet langsam ein Auge. Sie schaut an die Decke.
Ihr Auge ist grünbraungrau. Genau wie meines.
Sie will etwas sagen, doch aus ihrem Mund kommt kein Laut.
Ich frage sie, ob es ihr gut geht. Sie drückt ein wenig meine Hand.
Hast du Schmerzen?
Keine Bewegung.

Für einen Moment lang befällt mich die Hoffnung, dass das Fieber einfach wieder verschwindet und wir in einigen Tagen wieder gemeinsam im Fernsehzimmer sitzen. Aber das ist in Anbetracht ihres aktuellen Zustands eine Illusion. Trotzdem hoffe ich. Innerlich. Irgendwie.

Ich bin im Zweifel. Ich möchte jede Minute mit ihr geniessen.
Ich würde so gerne nochmals mit ihr über früher reden.
Wir haben soviel gemeinsam erlebt.
Aber ich will nicht, dass sie leidet.

Das ist wohl die grösste Angst, die man als Angehöriger durchlebt, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Die Vorstellung, dass das Gegenüber leidet, ist furchtbar.

Andererseits weiss ich aber auch, dass mein Omi einen harten Grind hat. Sie hat immer alles im Leben so gemacht, wie sie es für richtig hielt. Auch wenn es anderen nicht gepasst hat. Vielleicht darf ich ihr auch einfach vertrauen, dass sie dann geht, wenn sie es will.

Einer von tausend Toden

Ich wache am Bett. Am Abend zuvor hatte sie sich von mir verabschiedet. Wenn Menschen sterben, spüren sie, was sie noch brauchen. Meine Mutter hatte Spaghetti gegessen, mit ihrer Freundin geredet und mich angerufen. Am Ende sagte sie: Ich bin müde.

Ich werde ins Pflegeheim gerufen. Uschi liegt da. Ihr Atem geht schwer. Diese kochelnden Laute. Ich sehe ihr senfgelbes Gesicht. Wenn die Pflegenden sie umlagern, öffnet sie ihre riesigen, dunklen Augen und sieht mich an.

Hat sie Schmerzen, frage ich. Nein. Sie kriegt Morphium. Patientenverfügung. Meine Mutter. Immer einen Plan B.
Ich bin nicht darauf gefasst, sie sterben zu sehen.
Ich weiss nicht, wie ich bei ihr bleiben könnte.
Ich kann nicht gehen.

Während sie daliegt und stirbt, verstäte ich ihre Häkeldecke. Das hat sie immer gehasst. Also mache ich es für sie.
Wenn man dasitzt und Fäden vernäht, wird alles leichter. Mir kommen viele Dinge in den Sinn. Meine Kindheit. Ihre Umarmungen. Ihre Stimme, die ich nie wieder hören würde. Meine Hoffnung, dass sie noch einmal die Augen aufschlägt, etwas sagt. Der Tag vergeht langsam. Immer wieder gibt es Momente, an denen sie bereit scheint, loszulassen, es aber noch nicht kann. Ich warte.

Am Abend fahre ich nach Hause. Ich bin getrieben von Angst. Dass, wenn ich wieder zu ihr zurückkehre, meine Mutter bereits gegangen ist. Aber sie wartet auf mich. Ich nehme Platz in dem unbequemen Sessel. Warte. Sie atmet. Immer wieder Aussetzer. Ab und zu glaube ich eine Träne zu sehen. Vielleicht bilde ich es mir ein, denn meine eigenen Tränen fliessen unaufhörlich.

Dann wird es Abend. Ich habe keinen Hunger. Keinen Durst. Mir erscheint mit einem Mal alles endlos. Ich will nur noch, dass sie endlich stirbt, damit ich gehen kann. Die Luft im Pflegeheim ist trotz geöffneter Fenster schwer. Ich halte ihre Hand. Ich spüre, wie sie kälter wird. Wage nicht, ihr Gesicht zu berühren. Habe Angst, ich könnte sie beim Gehen stören. Zwischendurch nicke ich ein. Denke, vielleicht schläft sie dann auch. Ich muss es nur vormachen.

Immer wieder wache, schrecke ich auf. Ihr Kocheln. Sie blickt mit aufgerissenen Augen zur Decke. Dann schliessen sie sich. Der Atem geht langsamer.

Um fünf Uhr schrecke ich auf. Nachdem ich rund zwanzig Minuten am Stück geschlafen habe, wache ich von der Stille auf. Mutters Atem hat ausgesetzt. Nach einigen Sekunden röchelt sie. Dann atmet sie weiter. Ich sitze fassungslos da. Schwitze. Weine. Krieche auf das Bett neben ihrem. Ich lege mich hin und halte ihre Hand. Dann werde ich müde. Sobald ich die Augen schliesse, habe ich Angst, einzuschlafen und sie loszulassen.

Da alle Sterbezimmer belegt sind, muss meine Mutter in einem Vierbettzimmer liegen. Wir hören Musik. Immer wieder setzt Mutters Atem aus. Es klingt für mich, als würde sie immer tiefer eintauchen, und das Auftauchen wäre eine Qual.
Ihre Hände werden kälter. Ich weiss, bald ist es soweit. Um viertel nach vier tut sie ihren letzten Atemzug. Aus ihren Augen treten gelbe Tränen. Ich öffne das Fenster. Draussen scheint die Sonne. Der Nebel ist verflogen.

Dieser Text ist im Ebook „Tausend Tode schreiben“ im Frohmann Verlag erschienen.

Warten.

Seit vier Wochen warte ich auf den Bescheid, was den Hauskauf betrifft. Die Zeit verrinnt. Sand zwischen meinen Fingern. Nichts passiert.

Ich weiss es; Geduld ist nicht meine Stärke.
Doch vier Wochen ohne eine Nachricht ist zermürbend.
Mein Leben scheint still zu stehen.
Es scheint die Betreffenden nicht zu kümmern.
Nichts ist wichtig.

Inzwischen ist es Spätsommer geworden. Noch vor einem halben Jahr hing ich der Illusion nach, jetzt mit dem Umbau zu beginnen. Doch ich besitze nichts. Die Küche ist leer. Der Keller schimmelt.

Ich arbeite. Atme. Schreibe.
Meine Freizeit investiere ich in das Haus, das mir nicht gehört und von dem ich nicht mal weiss, ob ich je drin wohnen werde.
Gottes Mühlen mahlen langsam, so sagt man.
Ich zweifelte immer dran. Ich glaube nicht an Gott.

Stattdessen reisse ich die Kalenderblätter ab. Warte. Es wird Herbst. Es wird kalt und nichts geschieht. Wut verkneife ich mir. Ich berufe mich auf mein Gerechtigkeitsgefühl, welches aber hier nichts zählt.

Zuversicht, sagt mein Herz. Druck aufsetzen, sagt mein Kopf. So nicht. Aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu warten. Von Freiheit ist hier keine Spur. Ich bin nicht mehr als eine Nummer.

Sommertraum

Vor einem Vierteljahr bin ich davon ausgegangen, dass das Haus im Juli mir gehören würde. Ich hab mich getäuscht. Noch heisst es warten.

Manchmal hab ich das Gefühl, die Zeit rinnt zwischen meinen Händen davon und ich stehe da und kann gar nichts tun. Ich bin jetzt im besten Alter, um den Garten zu bestellen und mein Haus zu renovieren. Abhängig zu sein von anderen widerstrebt mir aufs Tiefste.

Mitte Juli habe ich Ferien. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dann das Haus zu räumen. Solange es mir nicht gehört, sind mir die Hände (und das Herz) gebunden.

Mein Vater hat mir heute gesagt, wie grosse Mühe er hat, dass ich ein renovierungsbedürftiges Haus kaufe. Ich wurde wütend. Wäre ich ein Mann und hätte ich Frau und Kinder, wäre wohl alles anders.

Ich bin eine Frau, die anpackt. Kein Huscheli. Ich will endlich mein Haus, um dort zu leben, den Garten bepflanzen und Omi Paula öfters sehen.

 

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Zerfliessende Tage

Während ich mich hier mit dem Alltag herumschlage, manchmal fluche, wenn ich zuviel oder zulange arbeite, lebt meine Oma im Pflegeheim. Ihre Tage gehen langsamer vorbei. Das liegt aber nicht daran, dass sie kein Programm hätte.

Nein.
Seit sie nicht mehr in ihrem Haus lebt, kann sie sich ihren eigenen Bedürfnissen widmen. Sie kann im Pflegeheim jederzeit mit jemandem reden, was ihr vorher nicht möglich war.

„Geniess dein Leben, du hast nur eines“, sagte sie früher oft zu mir, „aber vergiss dein Omi nicht.“

Wie könnte ich das je?

Gerade jetzt, wo es ihr gesundheitlich nicht super geht, bin ich oft in Gedanken bei ihr. Ich wünschte, ich könnte endlich in ihrem Haus leben. Dann hätte ich mehr Zeit für sie. Doch stattdessen sitze ich hier, arbeite, putze die Wohnung, mache die Wäsche und träume von meinem noch brachen Garten.

Während ich herumhetze, wartet sie auf das Ende. So ist es nämlich. Sie weiss es. Ich weiss es auch. Daran ist nichts Schlimmes. Ich hoffe nur, ich habe noch genügend Zeit.

Was man vermisst

Als Kind verbrachte ich meine Sommerferien immer bei Paula und Opa. Während Paula uns umsorgte, bekochte und unterhielt, wir waren ihre Augensterne, war Opa immer ein schrulliger Eigenbrötler. Den grössten Teil des Tages verbrachte er im Keller, in seiner Werkstatt, gehauen in den Fels, auf dem das Haus gebaut ist.

Ich weiss nicht genau, was er ausser Sinnieren und Holz sägen sonst noch gemacht hat. Er redete nicht viel, und wenn, dann von Politik, seinem Ärger auf entfernte, geldgierige Verwandte und dem Sonnenaufgang auf der Wasserflue.

Opa trug meistens ein königsblaues Übergwändli und rauchte in einer Pfeife einen zerschnittenen Rösslistumpen. Er schaute fürs Leben gerne den Eidechsen zu, wie sie sich an der Sonne wanden und träumten. Wenn ich ums Eck kam, zischte er und winkte, damit ich neben ihn trete und schaue.

So standen wir da, Opa und ich, und beobachteten die Eidechsen. Ihre Farben erscheinen mir heute noch schillernd und lebendig. Grün. Silbern. Walenseeblau.

Oft stand Opa am Nachmittag, wenn die Sonne auf den Bach schien, am Geländer und schaute zu, wie sich die Forellen im Wasser tummelten. Wenn ich eine sah und darauf zeigte, legte er den Finger auf den Mund, damit ich leise war. Nach ein paar Minuten tätschelte er liebevoll meinen Kopf. Ich kann seither an keinem Bach, keinem Fluss mehr vorbei gehen, ohne zu nachzusehen, ob ich eine von ihnen in den Wellen erkenne.

Am letzten Montag ging ich zum Haus, um die Johannisbeeren zu ernten. Ich werde die Bäume schneiden müssen, denn sie geben keine grossen Früchte mehr. Ich stand am Bach und schaute nach unten. Die Sonne schien.

Da erblickte ich sie. Sie schien uralt. Alleine. Aber sie ist noch da: eine grosse, wunderschöne, gesprenkelte Forelle. Minutenlang beobachtete ich sie und es schien mir, als würde mein Grossvater neben mir stehen und mir meinen Kopf tätscheln.