Das Märchen vom schlaflosen König

Ich liebe den Film „Big Fish“, weil er mich so sehr an meinen geliebten Vater erinnert.
„Erzähl mir, wie es sich abspielt. Wie ich gehe.“ sagt der Vater.
„Ohne dich kann ich das nicht. Hilf mir“, antwortet der Sohn,
„die Geschichte eines Lebens kann ich nicht ohne dich erzählen.“

Bis heute weiss ich nicht, warum ich vor über 6 Jahren dieses eine Märchen schrieb. Es fiel mir quasi in den Schoss: „Das Märchen vom schlaflosen König“. Ich erzählte es meinem Vater auf dem Sterbebett.

„Es war einmal ein König, der hatte mehr als sein halbes Leben Krieg geführt. Sein Körper war voller Narben, die er sich in vielen Kämpfen zugezogen hatte. Doch noch viel schlimmer als die sichtbaren Narben auf der Haut waren jene Verwundungen seiner Seele. Die konnte niemand sehen, denn er war ein sehr starker Mann.

Doch nachts konnte er nicht mehr schlafen. Er litt unter Albträumen. Jede Nacht von neuem ging sein Kampf weiter. Der König war tagsüber grantig, die Königin längst ihres Weges gezogen. Doch der König hatte noch eine Tochter. Sie war sein einziges Kind. Jahrelang hatte er sich gegrämt, dass er keinen Sohn hatte aufwachsen sehen. Das hatte er seine Tochter spüren lassen.

Seine Tochter war ein tapferes Mädchen. Sie, die Prinzessin, machte sich Sorgen um ihren Vater. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie sehr ihr Vater litt. Niemand am Hofe wusste Rat und konnte ihm helfen. Eines Morgen erwachte sie. Ein Vogel, es war eine Bachstelze, klopfte mit dem Schnabel an ihr Fenster. Die Prinzessin stand auf und öffnete das Fenster.

„Zi-lipp! Zi-lipp! Wenn du dem König helfen willst, verlass das Schloss und mach dich auf die Suche nach dem gelben Haus im grossen Wald! Zi-lipp! Zi-lipp!“
Die Prinzessin blickte den kleinen, grau-schwarzen Vogel überrascht an.
„Danke für deine Hilfe, kleiner Freund!“
Die Bachstelze jedoch fing mit dem Schnabel einen Käfer auf dem Fensterbrett und flog davon.

Die Prinzessin schlich sich leise weg aus dem Haus ihres Vaters. Sie entkam aus dem Schloss, ohne dass die Wachen ihres Vaters sie entdeckten. Der grosse Wald lag dunkel vor ihr. Doch sie hatte keine Angst. Sie war beseelt von dem Wunsch, ihrem Vater, dem König zu helfen.

Nach vielen Stunden des Wanderns durch die Dunkelheit erblickte sie ein gelbes Haus. Es stand mitten im Wald und leuchtete dennoch. Eine alte Frau trat aus der Türe. Sie hiess das Mädchen willkommen. Die Prinzessin, die noch immer ihr edles Kleid trug, das jedoch mittlerweile staubig geworden war, betrat das Haus. In der Küche bot ihr die Frau eine Tasse Tee an.

„Nimm ruhig, Kind. Die Blüten dieses Tees haben mir meine Freunde, die Vögel geschenkt.“

Die Prinzessin nahm einen Schluck. Der Tee schmeckte aussergewöhnlich gut. Er liess ihre Tränen und ihre Angst versiegen.
„Was willst du hier, Kind?“, fragte die Frau.
„Ich suche Heilung für meinen Vater. Er kann nicht mehr schlafen.“
Die alte Frau blickte sie wissend an. Sie schloss die Augen und flüsterte:
„Dein Vater ist ein starker Mann. Doch im Schlaf ist auch er ein Mensch wie jeder andere auch.“
Die Prinzessin nickte.
„Du kannst ihm aber helfen. Geh in den Wald und warte. Das erste Tier, das deinen Weg kreuzt, wird dich bei deinem Plan unterstützen.“
Die alte Frau gab der Prinzessin ein neues Kleid. Es war sehr einfach, aber sauber.

So ging die Prinzessin in den Wald zurück. Langsam wurde es dunkel. Mit einem Mal hörte sie ein sanftes Gurren. Sie folgte dem Geräusch und stiess auf eine kleine Krähe. Diese schien verlassen. Die Prinzessin ging auf die Knie und nahm den Vogel in ihre Hände. Die kleine Krähe schien keine Angst zu haben. Gemeinsam kehrten sie zurück zum Haus der alten Frau.

Diese schien nicht erstaunt, dass die Prinzessin eine Krähe gefunden hatte. Sie fütterte den kleinen Vogel mit einigen Würmern.
„Nun, mein Kind, kannst du dich aufmachen zu deinem Vater. Aber ich bitte dich, kehr hierher zurück. Ich versichere dir, dass dein Vater dann wieder vollends gesundet.“
Die Prinzessin versprach ihr das und kehrte mit der Krähe zurück ins Schloss ihres Vaters.

Ihr Vater war erzürnt, dass seine Tochter sein Schloss verlassen hatte. Die Prinzessin jedoch zeigte der Krähe das Gemach des Vaters. Das Tier suchte sich rasch einen Platz im Verborgenen. Die Prinzessin verabschiedete sich unter Tränen von der Krähe und verliess das Schloss wieder.

Sie kehrte zurück in das gelbe Haus im dunklen Wald. Dort übernahm sie den Platz der alten Frau, die in Wirklichkeit eine verzauberte Hexe war. Durch das Befolgen des Rats der Alten hatte die Prinzessin den Zauber gebrochen und wurde nun zur Herrin des Hauses und des Waldes. Die alte Hexe ging ihres Weges und ward nie mehr gesehen.

Der König aber konnte in jener Nacht endlich schlafen, denn wie jeder weiss, vertreibt die Krähe jegliche Dämonen, Albträume und schlechte Gedanken. In jener Nacht flog aus dem Fenster des Königs ein wunderbarer, kleiner Eisvogel. Der König ward nie mehr gesehen.

Die Krähe jedoch fand ihren Weg zur Tochter des Königs und ward von jenem Tag an eine treue Begleitung in guten und schweren Tagen.“