Vom Erinnern und Vergessen

Ich erinnere mich gerne.
In der Erinnerung bin ich den Menschen, die nicht mehr sind, nahe.

Aber es gibt auch Dinge, die ich am liebsten vergessen würde. Da sind Erlebnisse voller seelischer Schmerzen, erlittener Ungerechtigkeit und Trauer. Wenn es einen Knopf zum Löschen dieser Erinnerungen gäbe, ich würde ihn sofort drücken.

Es gab diesen einen Moment in meiner Jugend.
Ich war immer ein gläubiges Mädchen gewesen. Ich ging gerne in die Sonntagsschule und ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass Gott in jedem Schmetterling, jedem Huhn, meiner Katze und sogar den Steinen wohnt. Ich hatte, trotz allem Schrecklichen, dem Tod meines Bruders, keinen Zweifel daran, dass alles gut werden würde.

Doch dann versuchte meine Mutter, mal wieder, ihr Leben zu beenden. Sie erlitt immer wieder in jener Jahreszeit, in der mein Bruder verstarb, und in der ihr eigener Geburtstag war, Phasen tiefster Traurigkeit. Ich weiss nicht genau, wie sie es gemacht hat, ich glaube, sie nahm Tabletten. Sie wollte einfach nicht mehr leben. Ich hatte keine Chance, diesen Schritt zu verhindern. Meine Schwester hat unsere Mutter schliesslich gefunden und Alarm geschlagen. So konnte mein Vater, der ausserhalb des Hauses war, den Notfallarzt rufen und meine Mutter wurde vor dem Tod gerettet.

Ich erinnere mich, dass ich an jenem schrecklichen Abend meine Schwester in meinem Zimmer schlafen liess. Ich war vielleicht 13 oder 14, sie vier Jahre jünger. Wir krochen unter die Bettdecken und beteten ein Unser Vater. Meine Mutter lag vorne in der Stube, bei ihr der Arzt. Sie hatte schreckliche Schmerzen und schrie.

Ich weiss noch genau, worum ich gebeten habe: „Lieber Gott, mach, dass meine Mutter in ein Spital gebracht wird.“ Doch es geschah nichts. Meine Mutter wurde nicht in einem Spital behandelt, auch nicht in einer psychiatrischen Klinik. Einige Tage später kam sie zu mir und zischte mich an: „Du bist schuld an dem, was an dem Abend passiert ist. Nur du.“ Dann drehte sie sich ab und redete mit mir nie mehr darüber. Sie lebte noch einige Zeit mit uns, dann zog sie aus.

Das waren jene Tage, wo ich meinen Glauben gegen Sicherheit austauschte. Ich hatte keine Lust mehr aufs Bitten. Als Kind hatte ich mitgekriegt, dass es Christen gab, die den Tod meines Bruders für eine Strafe hielten. „Wenn ein so kleines Kind stirbt, dann muss was dahinter sein…“, ich erinnere mich gut an diese Sätze, von wem auch immer sie in meiner Nähe ausgesprochen wurden. Diese Sätze kehrten zurück in meine Erinnerung, als meine Mutter im Sterben lag. Ihr Sterben als Strafe für unmoralisch gelebtes Leben. Was für eine verdammte Scheisse!

Vielleicht kann ich deshalb nicht aufhören, über sie zu sprechen. Der Tod meiner Mutter war so unnütz. Sie war so ein feiner, liebenswerter, liebender Mensch. Ich vermisse sie zutiefst und wünschte mir, ich könnte etwas tun, um das an ihr begangene Unrecht wieder gut zu machen.

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