Die Parallelen sind für mich zumindest fühlbar. Ich fühle mich fast wie vor sieben Jahren. Ich eile zwischen zwei Wohnorten umher, versuche, dem Menschen, der mich braucht, nahe zu sein, ohne es zu können.
Meine Mutter liegt 2007 im Pflegeheim Wil. Die Institution liegt neben dem Spital, wo sie mich dreissig Jahre vorher geboren hat. Die Parkplätze sind rar. Der Spätsommer 2007 ist wunderschön. Er lädt ein zu Spaziergängen im Wald und in den Bergen.
Doch ich kriege nur wenig davon mit. Die Schönheit des Thurgaus in jener Jahreszeit sehe ich nur vom Auto aus. Die Sonnenuntergänge. Die bunten Blätter. Den Nebel. Die gefahrenen Kilometer hab ich nicht gezählt. Doch die Strecke habe ich mehr als einmal verflucht.
Ihr Geburtstag. Mit einem Mal erinnere ich mich nicht mehr, ob sie den 2. September 2007 im Kantonsspital Frauenfeld, in der Psychiatrie Littenheid oder im Pflegeheim Wil erlebt hat. Ist das ein gutes Zeichen? Bedeutet mein Vergessen Verarbeiten von Trauer?
Man hat mir damals angeraten „muesch halt bätte, Meitli“, was ich nicht tun konnte. Wie auch? Was hätte es genützt? Ich glaube nicht, dass der liebe Gott, Stewart Granger oder John Wayne vom Himmel herabgestiegen wären und Mami dem Tod entrissen hätten.
Stattdessen passierte das Gegenteil. Ich konnte die Sterbephasen nach Kübler-Ross praktisch auswendig. Auch wenn ich nicht darüber sprach (oder darüber sprechen konnte), befand ich mich in einer non-stop-Reflektion der aktuellen Phase.
Bullshit.
All das war nur ein Vorwand, um mich nicht der Wahrheit stellen zu müssen. Meine Mutter lag im Sterben und ich konnte nichts dagegen tun.
Heute ist die Lage natürlich nicht mehr so dramatisch. Aber ich bin mir bewusst, dass Omi nicht mehr hundert Jahre leben wird. Ich möchte aber die Zeit, die wir beide noch haben, mit ihr gemeinsam verbringen. Ich möchte sie sehen. Ich will diesen wunderbaren, liebevollen, lustigen Menschen umarmen und mich freuen, wenn sie was witziges sagt. Ich will mich mit ihr erinnern und ihre kryptischen Worte entziffern.
Ich will verdammt nochmal nicht noch einmal warten wie eine verdammte Idiotin und danach trauern um eine Zeit, die man mir gestohlen hat.