Über Paradiese

Meine Mutter verschwand beinahe in der grell weissen Bettwäsche des Spitals. Ihr Gesicht leuchtete senfgelb. Sie war total abgemagert, doch ihr Bauch stach wie bei einer Hochschwangeren hervor. Es war schlimmer als alles, was ich erwartet habe und schlimmer als alles, was noch kommen würde. Ich wusste, sie liegt jetzt im Sterben und ich kann nichts dagegen tun.

Sie starb dann aber nicht sofort. Sie liess sich drei Monate Zeit mit Weggehen. Das war nicht für alle ganz einfach. Die Dame des Sozialamts sagte mir denn auch rasch, dass ich jetzt die Wohnung räumen sollte und überhaupt, ob ich das Gefühl habe, sie zahlen doppelt für meine Mutter?

Meine Mutter überlebte das Spital und zog in ein Altersheim. Mit ihren 56 Jahren war sie bei weitem die jüngste Heimbewohnerin. Insgeheim dachte ich: jetzt bist du hier wirklich der letzte Hippie, Mami.

Weil das Sozialamt natürlich nicht für Pflegeheim und eine versiffte Ein-Zimmer-Wohnung in Frauenfeld bezahlte, war es nun an mir, meine Mutter zur Kündigung ihrer Wohnung zu bewegen. Das war sehr entwürdigend, denn meine Mutter hatte ja Hoffnung, sie würde diesen ganzen Scheiss hier überleben und wieder zurückkehren. Ich wusste es besser. Schliesslich willigte sie ein, denn sie erwähnte eine wunderschöne Wohnung mit weissen Wänden, einem Lift, Tumbler und Waschmaschine, wo sie sich einmieten würde. Einen Balkon hätte es da auch, damit sie draussen rauchen gehen könnte. Für meine Mutter schien die Vorstellung mit einem Mal so klar, dass sie in jenem Moment die vorbereitete Kündigung der Wohnung unterschrieb.

Einige Tage später aber erinnerte sie sich, was sie getan hatte und beschimpfte mich übel.

Sie beruhigte sich wieder. Aber mein schlechtes Gefühl blieb. Es ging mir gottverdammt schlecht. Ich fing an, ihre Wohnung zu räumen, immer ihren Geruch in der Nase. Mir fielen ihre Briefe, ihre Fotos, ihre Bücher in die Hände. Ich musste entscheiden, was ich mitnehme und was nicht. Manchmal legte ich mich dann einfach auf den versifften Teppichboden und weinte. Das half mir ein wenig, wenn ich nicht mehr wusste, wie weiter. Ich hab die Entsorgung ihres Mülls selber bezahlt. Zum Dank gab das Sozialamt dann meine Adresse an ihre Gläubiger weiter.

Einige Tage vor ihrem Tod erzählte mir meine Mutter wieder von ihrer neuen Wohnung. Sie freute sich auf den Umzug. „Irgendwann kommst du mich dann besuchen und dann hören wir Musik. Wir schauen „Die Herberge zur 6. Glückseligkeit“ mit Ingrid Bergman und Curd Jürgens. Wir werden gemeinsam Kaffee trinken und du musst mir versprechen, dass du dann nicht in schwarzen Kleidern herumhockst und einen Lätsch ziehst.“

Und so laufe ich heute nur noch selten in schwarzen Kleidern herum, nämlich dann, wenn es gar nicht mehr anders geht und ich traurig bin. Die Trauer verfliegt langsam, aber im Herzen drin bleibt eine schwarze, immer eiternde Wunde.

Gestohlene Zeit

Die Parallelen sind für mich zumindest fühlbar. Ich fühle mich fast wie vor sieben Jahren. Ich eile zwischen zwei Wohnorten umher, versuche, dem Menschen, der mich braucht, nahe zu sein, ohne es zu können.

Meine Mutter liegt 2007 im Pflegeheim Wil. Die Institution liegt neben dem Spital, wo sie mich dreissig Jahre vorher geboren hat. Die Parkplätze sind rar. Der Spätsommer 2007 ist wunderschön. Er lädt ein zu Spaziergängen im Wald und in den Bergen.

Doch ich kriege nur wenig davon mit. Die Schönheit des Thurgaus in jener Jahreszeit sehe ich nur vom Auto aus. Die Sonnenuntergänge. Die bunten Blätter. Den Nebel. Die gefahrenen Kilometer hab ich nicht gezählt. Doch die Strecke habe ich mehr als einmal verflucht.

Ihr Geburtstag. Mit einem Mal erinnere ich mich nicht mehr, ob sie den 2. September 2007 im Kantonsspital Frauenfeld, in der Psychiatrie Littenheid oder im Pflegeheim Wil erlebt hat. Ist das ein gutes Zeichen? Bedeutet mein Vergessen Verarbeiten von Trauer?

Man hat mir damals angeraten „muesch halt bätte, Meitli“, was ich nicht tun konnte. Wie auch? Was hätte es genützt? Ich glaube nicht, dass der liebe Gott, Stewart Granger oder John Wayne vom Himmel herabgestiegen wären und Mami dem Tod entrissen hätten.

Stattdessen passierte das Gegenteil. Ich konnte die Sterbephasen nach Kübler-Ross praktisch auswendig. Auch wenn ich nicht darüber sprach (oder darüber sprechen konnte), befand ich mich in einer non-stop-Reflektion der aktuellen Phase.

Bullshit.
All das war nur ein Vorwand, um mich nicht der Wahrheit stellen zu müssen. Meine Mutter lag im Sterben und ich konnte nichts dagegen tun.

Heute ist die Lage natürlich nicht mehr so dramatisch. Aber ich bin mir bewusst, dass Omi nicht mehr hundert Jahre leben wird. Ich möchte aber die Zeit, die wir beide noch haben, mit ihr gemeinsam verbringen. Ich möchte sie sehen. Ich will diesen wunderbaren, liebevollen, lustigen Menschen umarmen und mich freuen, wenn sie was witziges sagt. Ich will mich mit ihr erinnern und ihre kryptischen Worte entziffern.

Ich will verdammt nochmal nicht noch einmal warten wie eine verdammte Idiotin und danach trauern um eine Zeit, die man mir gestohlen hat.