Weggefährten

1998 war ich gerade 21 Jahre alt geworden und todunglücklich.
Ich konnte nur schwer ertragen, wie sich meine Mutter langsam aber sicher mit Hilfe von Alkohol umbrachte. Ich fühlte mich nicht in der Lage, ihr zu helfen.
Ich wollte und musste irgend etwas unternehmen gegen meine Ohnmacht.

So meldete ich mich bei der Beratungsstelle und bat um Hilfe.
Ich erinnere mich noch heute, fast 20 Jahre später, an Frau I’s Stimme.
Sie war sehr freundlich zu mir und lud mich zu einem Gesprächstermin ein.
In ihrem Büro, Altbau, Parkettboden, hohe Wände, schilderte ich schliesslich mein Anliegen:
Ich wollte meiner Mutter helfen, vom Alk wegzukommen.

Frau I. sass vor mir und sagte:
„Frau Debrunner, Sie können Ihrer Mutter nicht helfen. Sie können nur sich selber helfen.“
Diese Worte werde ich nie vergessen.

Von da an besuchte ich Frau I. einmal die Woche.
Wir sprachen jeweils eine Stunde lang miteinander.
Irgendwann, nach langer Zeit, flossen endlich meine Tränen.

Frau I. war wenig älter, vielleicht 10, 12 Jahre, als ich.
Ich begann, mit ihrer Unterstützung, zu begreifen, was in meiner Familie, mit meiner Mutter, geschehen war. Ich lernte zu verstehen und, endlich, mir nicht mehr die Schuld an allem zu geben.
Das war harte Arbeit und bitter nötig.

Einige Jahre später fühlte ich mich stark genug und ich besuchte sie nicht mehr.
Sie sagte: „Sie können immer hierher kommen, wenn Sie Hilfe brauchen.“

2007 lag meine Mutter im Spital Frauenfeld.
Sie hatte eine Leberzirrhose und ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
Ich wusste, was sie erwartete.
Ich wusste auch, was mich erwarten würde.

Der Arzt rief mich an und sagte mir, er würde meine Mutter nach Hause entlassen.
Ich weiss noch heute, was ich damals dachte:
Das ist ihr sicherer Tod.

Sie würde nicht aufhören können, Wasser zu trinken und elendiglich in ihrer Dachwohnung verrecken.
Kein Mensch würde wollen, dass ein anderer Mensch so stirbt.
Ich wusste genau, wenn sie nach Hause entlassen wird, würde ich sie tot auffinden.
Das wollte ich nicht.
Dem Arzt war das scheissegal.

„Intakte Familien nehmen ihre Sterbenden mit nach Hause und pflegen sie dort.“

Ich rege mich noch heute über seinen Satz auf, seine absolute Unfähigkeit mit einem sterbenden Menschen (und seinem Umfeld) umzugehen. Der Arzt liess nicht mit sich reden.
„Übermorgen werden wir Ihre Mutter nach Hause schicken.“

Und so rief ich Frau I. an.
Wieder.
Ich spürte, sie könnte mir helfen.
Ich brauchte nicht viel zu sagen. Dazu war ich gar nicht in der Lage.

Frau I. reichte in meinem Namen eine Gefährdungsmeldung bei der Stadt ein und sorgte so dafür, dass meine Mutter nicht heimgeschickt wurde. Wenig später verstarb meine Mutter im Pflegeheim.

Ich musste, im Rahmen meiner Weiterbildung, sehr oft an Frau I. denken.
Ich habe sie nach Mamis Tod nur noch einmal gesprochen.
Alles war gut.

Ich suchte vor einigen Tagen im Netz nach ihr, weil ich wissen wollte, was sie heute so macht.
Ich fand nichts ausser einer Todesmeldung.
Sie starb vor sechs Jahren bei einem schrecklichen Verkehrsunfall.

Ach, liebe Frau I.
Danke für alles.
Sie fehlen.

3 Gedanken zu “Weggefährten

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