Loslassen II

Ich denke oft über den Tod meiner Mutter nach. Ich bin trotz des Schmerzes dankbar, dass ich mit dabei sein durfte. Es ist ein Geschenk, anwesend sein zu dürfen, wenn jemand geht.

Nicht immer habe ich mich mit meiner Mutter gut verstanden. Als Kind fühlte ich mich oft von ihr verletzt, ungeliebt, nicht wahrgenommen. Aber trotz allem spürte ich, dass ich ihr Kind bin. Ein Teil von ihr. Das konnte ich nicht wegreden.

Als ihre letzten drei Monate gekommen waren, musste ich mich entscheiden. Wollte ich an ihrer Seite sein oder gehen? Ich konnte nicht anders. Dreissig Jahre zuvor hatte sie mich geboren, nur wenige Meter von der Geburtsklinik weg, im Pflegeheim, würde sie nun sterben.

Ich halte mich nicht für einen besonders spirituellen oder esoterisch veranlagten Menschen. Aber diese Tatsache hat mich sehr berührt. Wenn ein Mensch stirbt, so ist das eine Art rückwärtige Geburt. Der Ausdruck klingt seltsam, das ist mir bewusst, aber mir fällt kein anderer ein.

Als sie im Sterben lag, konnte ich nicht gehen. Es hielt mich an ihrer Seite. Ich fühlte mich mit einem Mal, als wäre ich eine Art Zerberus. Nichts konnte mich von ihr wegbringen.

Ich wusste sehr wohl, dass die Pflegenden fürchteten, sie könnte nicht gehen, solange ich an ihrer Seite bin. Sie schickten mich Kaffee trinken. Aber ich wollte nicht weg. Ich musste daran denken, wie lange sie auf meine Geburt gewartet hat. Sie hat oft darüber geflucht, denn der Juli 1977 war heiss. Vier Tage lang wartete sie. Ich wartete nur 36 Stunden.

So oft habe ich im Nachhinein das Gefühl, wir konnten uns wirklich nicht loslassen. Wir hatten uns eben erst gefunden. Sie, meine Mutter, lebensfroh, genusssüchtig, lustig. Ich, ihre Tochter, zu grüblerisch, oberflächlich und voller Fragen.
Jetzt konnte sie doch nicht gehen. Wir konnten endlich reden. Nichts stand mehr zwischen uns, denn die Vergangenheit hatte ihre Wichtigkeit eingebüsst.

Es war schwer für mich, sie so zu sehen. Manch einer würde gesagt haben, dass sie gelitten hat. Das glaube ich nicht. Es war natürlich eine Art Kampf. Aber das Ende war sehr friedlich, wie am Ende eines fulminanten klassischen Konzerts. Vielleicht wie Le Sacre du Printemps.

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