Trauriger September

Die Schwermut überholt mich jedes Jahr in dieser Zeit, selbst wenn ich mir vornehme, glücklich zu sein und an nichts zu denken. Es scheint in meinen Genen zu liegen, diese Traurigkeit im September.

Bald 38 Jahre ist es her seit seiner Geburt. In meinen Augenwinkeln sehe ich meine glückliche Mutter. Sie strahlt und hält ihren prallen Bauch. Immer wieder ist es dieses Bild, das ich vor Augen hab. Sie ist glücklich. Sie erwartet ihr zweites Kind. Sie ist 28 Jahre alt. Ich bin nicht mehr alleine. Ein Geschwister.

Doch der Traum zerbricht. Sie verschwindet im Spital und kommt als komplett veränderter Mensch zurück. Sie ist noch immer meine Mutter. Doch etwas und alles in ihr ist zerbrochen. Nie mehr wird sie die gleiche sein wie vorher. Alles, was vorher war, ist mit einem Mal weg. So als wäre sie tot.

An ihrer Seite ist mein Bruder nicht. Er liegt in einem kleinen weissen Sarg, gleich einer Schuhschachtel und verschwindet alsdann in jenem Grab, das bald von einem seltsamen Nadelgehölze überragt wird. Ich sehe ihn niemals lebend. Es scheint, als wäre allein das Wissen, dass er gelebt hat, ohne dass ich mich jemals von seinem Dasein überzeugen konnte, verwirrend.

Mein bruderloses Leben dauert weitere zwei Jahre, in denen ich meine Mutter als vollends traurigen Menschen erlebe. Wie hat sie es nur geschafft, all das zu überleben? Und wie schaffte ich es?

September 2014

Ich kanns kaum glauben, dass ich vor sieben Jahren das letzte Mal mit meiner Mutter Geburtstag gefeiert habe. Es scheint mir manchmal, als wäre es schon hundert Jahre her. Oder erst gestern.

Sie fehlt mir. Ich wünschte mir so sehr, sie wäre jetzt hier und würde mich unterstützen. Als ich 2006 in ein Theaterprojekt involviert war, meinte sie lediglich: „Du schaffst das schon, Meitli..“ Ihre Worte fehlen. Ihre trockene Art und Weise und gleichzeitig das Vertrauen in mein Können, das wäre jetzt in dieser Phase von Nöten.

Sie hat es nie verstanden, dass ich schrieb. Sie sagte oft: „von mir hast du das nicht, Meitli.“
Ich weiss es echt nicht. Wenn ich ihre Aufsätze durchlese, erkenne ich meine Schrift wieder. Ihre Zeichnungen. Ihre klaren Gedanken. Ihr Suchen nach Worten und Beschreibung. Nein. Von ihr hatte ich es nicht, denn sie hatte es bis zuletzt.

Meine Mutter lag vor sieben Jahren bereits im Pflegeheim. Sie war keine 56 Jahre alt. Um sie herum waren steinalte Menschen, die dort lebten. Nur sie war zum Sterben hier her gekommen.

Manchmal wünsch ich mir, ich hätte damals ein eigenes Haus gehabt und sie pflegen können. Ich hätte Spitex-Frauen herumgejagt und jedem Arzt Feuer unter dem Hintern gemacht, der sie schlecht behandelt. Aber damals wusste ich ja nicht, was mich erwartete. Ich war sozusagen blauäugig.

Heute ist das anders. Ich bin in sieben Jahren siebzig Jahre gealtert. Kein Stein ist seit ihrem Tod auf dem anderen geblieben. Ich bin wirklich ein anderer Mensch geworden.

Würde sie mich noch erkennen?

P.S. am meisten bereue ich, dass ich praktisch keine Photos von uns zweien habe. Es gibt eins, da bin ich noch ein Baby, beim anderen war ich Konfirmandin. Es scheint mir, als wären Tochter und Mutter nicht-existent.

Septemberwehen und Sven

Der September ist nicht mein Lieblingsmonat. Er war es nie, obwohl ich seine Farben mag.

Meine Mutter wurde am 2. September an einem Sonntag geboren.
Sie glaubte fest daran, dass sie ein Glückskind war.
Sie war es nicht.

Seit ich zwei Jahre alt bin, durchlebe ich den September mit sehr gemischten Gefühlen. Am 17. September ist nämlich der Geburtstag meines Bruders Sven. Am 20sten September ist sein Todestag.

Als Kind durchlebte ich mit meiner Mutter jeweils ein Tauchbad der Gefühle. Sie mochte Feiern. Sie mochte ihren Geburtstag. Aber am 17ten wurde sie still und traurig. Sie betrank sich. Als sie älter wurde, versuchte sie sich an jenen Tagen auch das Leben zu nehmen.

Ich begann den September trotz seiner starken, schönen Farben zu hassen.

Die Schwere setzte sich auch fort, als ich älter wurde. Als meine Mutter 2007 in einem Pflegeheim auf ihren Tod wartete, hoffte ich inbrünstig, dass sie nicht im September sterben würde.

Das tat sie denn auch nicht. Sie wartete damit bis Oktober.

Ich versuche noch immer zu ergründen, was damals geschehen ist. Meine Mutter wurde durch den unerwarteten Tod meines Bruders in die Tiefe gerissen. Sie hat sich nie mehr davon erholt. Ihre Trauer war schwer und jeder der sie kannte, fühlte, wie schlecht es ihr geht.

Habe ich deshalb keine Kinder, weil ich mich insgeheim davor fürchte, mein geliebtes Kind auch zu verlieren und wahnsinnig zu werden?

Auch wenn meine Mutter jetzt schon sechs Jahre tot ist, versuche ich den September bewusst zu leben, mich an seinen Farben zu erfreuen und meinen Bruder loszulassen. Ich hoffe, es gelingt mir.