Wie du Abschied nehmen kannst

Abschied nehmen ist vielleicht die andere Seite des sich Verliebens: Man nimmt Abschied von jemandem, den man gerne hat. Man lässt ihn langsam los, im Wissen, dass der gemeinsame Weg bald einmal zu Ende ist.

Wenn man weiss, dass der gemeinsame Weg nicht mehr lange dauert, ist die Zeit eine relative Sache. Es vergeht alles schnell und gleichzeitig sehr langsam. Es gibt noch so viel zu besprechen, derweil alle Worte fehlen.

Das Leben ist eine Sache, der Tod, das Nichtmehrsein eine andere. Was gibt es da noch zu bereden?

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Machs gut, lieber Rudi

Vergangene Nacht starb Rudi. Er wurde 90 Jahre alt.

Ich habe Rudi nie getroffen, doch über Twitter waren wir über fünf Jahre lang befreundet. Er hat mich herzlich unterstützt, sei es in meinem Schreiben oder während Omis Demenz.

Als ich „Lavinia Morgan“ überarbeitete, hat er mich immer wieder via PN und Mail motiviert, weiter zu machen, (mich und das Buch) nicht aufzugeben. Auf das fertige Werk (und mich) war er dann sehr stolz.

Es hat mich sehr gerührt, dass er mich als „Enkelin“ bezeichnet hat. Das geschah in einer Zeit, in der mich meine Omi vergessen hatte. Es tat gut, einen Menschen aus ihrer Generation da zu wissen. Er hat Twitter für mich zu einem guten Ort gemacht. Seine Menschenfreundlichkeit und seine Begeisterungsfähigkeit werde ich nie vergessen.

Rudi gehörte zu meinem literarischen Freundeskreis: Wie oft hat er mir und meiner Familie mit seinen schön formulierten, liebevollen Kommentaren eine Freude gemacht! Er hat mich getröstet, als Omi im Sterben lag. Er tat dies aus der Warte des weisen alten Mannes, ohne jemals arrogant zu wirken. Rudi muss sehr viel erlebt haben; verbittert war er aber nicht.

Die letzten Monate habe ich nichts mehr von ihm gelesen. Ich ahnte, dass er sich nun auf seinen letzten Weg machen würde.

Lieber Rudi, ich wünsch dir eine schöne Reise und grüss all jene, die ich vermisse. Danke für alles!

Vielleicht

Vielleicht war der Verlust meiner Mutter der heftigste meines bisherigen Lebens.
In meiner Mutter wollte ich mich nie erkennen und fand doch immer nur mein Spiegelbild.
Dass sie nun elf Jahre tot ist, erscheint mir manchmal etwas irreal. Es war erst gestern oder nie.

Meine Mutter war 56, als sie starb. Ich war 30, als ich mutterlos wurde.
Ich bin manchmal etwas neidisch, wenn ich andere Töchter mit ihren Müttern sehe.
Aber es macht mich jedes Mal auch glücklich, wenn ich den Stolz in den Augen einer Mutter entdecke.
Dann denke ich: Das ist so schön.

Ich weiss nicht wirklich, ob meine Mutter je stolz auf mich war.
Was ich in meinem Leben bis zu ihrem Tod anstellte, hinterliess sie immer etwas ratlos.
„Schreiben? Woher hast du das bloss? Wenigstens nicht von mir!“
Oder: „Ich könnte nie mit Behinderten arbeiten. Das bräche mir das Herz.“
Oder: „Du fährst Auto. Sowas könnte ich nie. Da hab ich Angst.“

Vielleicht war es aber auch so, dass sie gar keine Worte für ihre Gefühle fand.
Meine Omi schaffte das problemlos. Es gab bis zum Ende ihrer Erinnerung sehr viele Worte des
Stolzes. Das hat die beiden unterschieden. Omi konnte sehr lange ihre Emotionen ausdrücken, derweil es meine Mutter erst kurz vor ihrem Tod schaffte.

Tag zwei

Die Nacht war unruhig. Aber irgendwie bin ich erstaunlich wach.
Mein Körper fühlt sich noch immer wie durch den Wolf gedreht an.
Hunger verspüre ich keinen.
Ich gehe arbeiten und das Denken tut erstaunlich gut.

Am Vormittag meldet sich das Pfarramt.
Der Termin steht jetzt fest. Freitag in einer Woche.
Ich habe genügend Zeit für die Vorbereitungen.
Morgen früh um neun läuten für Omi die Glocken.
Am Samstagabend ist ein Gottesdienst.
Dann Beerdigung.
In einem Monat wieder ein Gottesdienst.

Vor zehn Jahren haben Omi und ich gemeinsam Mami beerdigt.
Gespräch mit dem Pfarrer.
Samstagabend-Gottesdienst.
Beerdigung.
In einem Monat wieder ein Gottesdienst.
Ich denke: damals warst du an meiner Seite.
Rituale geben Sicherheit.
Ich tus für dich.
Dir wars wichtig.

Anders als damals bei meiner Mutter
fühle ich, dass Omi nicht mehr da ist.
Sie ist einfach weg.

Ich rufe die Gemeindeverwaltung an, um die Beerdigung zu melden.
Ich muss entscheiden, was auf Omis Holzkreuz geschrieben steht.
Ihr Taufnahme war Paulina.
„Paula“, sage ich.
Wieder spreche ich aus, dass sie nicht mehr ist.
Ein Schritt weiter.

Montag

Seit heute morgen vier Uhr lebt Omi nicht mehr.
Verstanden habe ich es wohl. Aber glauben konnte ich es nicht.
Mein Herz tut sehr weh.
Ich ziehe meine schwarzen Kleider an, die bereit gelegt im Schrank auf mich warten.

Wir fahren ins Pflegeheim. Dort werden wir von den Pflegenden empfangen.
Ich brech in Tränen aus, als ich Omis Gedenktischchen erblicke.
Auf dem Foto blickt sie lachend in die Kamera.
Daneben liegt ihr roter Rosenkranz, ihr Brillenetui und mein Buch.
Ach Omi, denke ich.

Die Pflegende tröstet mich.
Sie umarmt mich, derweil ich an ihrer Schulter weine.
Dabei gibt es keinen Trost.
Sie begleitet uns hinauf zu Paulas Zimmer.
Sie sagt: „Ihr Omi sieht wunderschön aus.“

Wir treten ins das Zimmer, wo wir die letzte Woche so viel Zeit verbracht haben. Omi liegt, gekleidet in ihren dunkelblauen Blazer, ihre weisse Bluse und mit einem ihrer bunten Halstücher, da. In ihren gefalteten Hände hält sie ihren schwarzen Rosenkranz. Das Zimmer riecht nicht nach Tod.
Als ich Omi so daliegen sehe, fliessen meine Tränen.
Sie sieht so friedlich aus.
Ich berühre Omis Hände. Sie sind kalt.

Ich lege einige Gegenstände auf ihr Bett. Den Schutzengel, ein Plüschtier, eine rote Rose, das Foto von Röteli und eines von mir. Immer wieder berühre ich ihre Hand, weil ich begreifen will und muss, dass sie mich nie mehr anlächelt, nie mehr umarmt und nie mehr meinen Namen sagen wird.
Ihre letzten Worte an mich fallen mir ein:
„Aber warum bist du denn traurig?“

Dann setze ich mich wieder auf den Stuhl. Ich weine.
Aber mit der Zeit werde ich ruhiger.
Ich drücke Omis Plüsch-Sennenhund, den ich ihr vor langer Zeit geschenkt habe, an mich.
Sie hat ihn immer Barri genannt.

Omi liegt friedlich da. Sie sieht aus, als ob sie jeden Moment den Bus besteigt und einkaufen geht. Nur ihre dunkelblaue Tasche fehlte noch. Immer wieder gehe ich zur hin und berühre ihre Hand. Dann spüre ich plötzlich, dass es gut ist. Ich verabschiede mich von ihr mit einem letzten Kuss auf die kühlen Wangen und streichle ein letztes Mal ihr liebes Gesicht, ihr Haar.

Die Pflegende informiert mich danach, dass am Nachmittag der Arzt kommt um den Totenschein auszustellen und danach der Schreiner mit dem Sarg. Nun muss ich nur noch einmal hierher kommen und ihre Sachen abholen. Die Beerdigung muss ich ebenfalls organisieren, aber ich glaube, das kommt gut. Ich bin so froh, dass Omi und ich all die Jahre über den Tod gesprochen haben, so dass ich jetzt glasklar weiss, was zu tun ist.

Die Pflegende erzählt mir, dass auch sie alle Omi sehr vermissen.
„Sie war so ein Sonnenschein“, sagt sie.
„Wenn es manchmal am Esstisch sehr still war, weil alle den Kopf hängen liessen und traurig waren, fing Paula einfach an zu singen: Det äne am Bergli, döt stoht e wiisi Geiss! Ich ha sie welle mälche, do haut sie mir eis!
Und alle lächelten wieder. Ihre Omi wollte, dass andere Menschen sich freuen und nicht niedergeschlagen sind.“

Samstag

Den 7. Januar 1997 werde ich nie vergessen.
An diesem Tag, um Punkt acht Uhr, verstarb mein Opi Walter.
Ich war nicht dabei, Omi schon.

Es ging Opi nach Silvester und Neujahr immer schlechter.
Er wurde zunehmend schwächer. Er litt an Leberkrebs und sein grösster Wunsch, in seinem eigenen Bett zu sterben, wurde erfüllt. Täglich kam eine Pflegende der Spitex vorbei um Opa zu waschen und ihm Morphium zu geben.

Omi war einfach an Opas Seite.
Es muss sehr schwer für sie gewesen sein, zuzuschauen wie der Mann, mit dem sie fast 46 Jahre verheiratet war, langsam starb. Omi und Opa hatten die letzten Jahre oft gestritten. Ich weiss, beide waren unglücklich. Sie blieben zusammen. Eine Scheidung wäre für beide wohl nie in Frage gekommen. Sie hätten es sich nicht mal leisten können.

Opa hatte in der Nacht auf den 7. Januar grosse Atemprobleme. Seine grösste Angst war zu ersticken. Omi versuchte alles, um ihm die letzten Stunden erträglich zu machen. Sie hielt seine Hand. Sie streichelte ihn. Sie redete mit ihm, der nicht mehr sprechen konnte. Sie verzieh ihm alles und er ihr. Dann machte er seinen letzten Atemzug und starb.

20 Jahre später ist alles anders und doch gleich.
Omi lebt. Sie liegt in ihrem Bett, wirkt wacher, aber auch müde. Sie ist ruhig. Gestern nachmittag hat sie ein Schoggijoghurt gegessen. Sie kann zwar nicht reden, aber dafür zeigen, was sie nicht will.

Ich versuche an ihrer Seite zu sein. Nicht immer. Aber eine Stunde pro Tag bin ich da.
Es gibt nichts, was wir einander vergeben müssen. Wir haben immer geredet und sind nie im Streit auseinander gegangen. Ich bin ruhig, wenn auch sehr traurig. Ich bin Omi dankbar, dass das Loslassen von ihr nicht so schlimm ist wie damals bei meiner Mutter. Omi weiss, wie schrecklich das für mich war.

Am Ende eines Lebens haben viele Dinge ihren Wert verloren. Es geht nicht um Geld, Geschenke, Aussehen, sondern um Zeit und Liebe. Es geht um Berührung und unaufdringliche Präsenz.

Lebensfreude und Sterben

Ich habe mich oft gefragt, was sein wird, wenn mein Omi mal nicht mehr lebt. Als Kind war mir diese Vorstellung ein Gräuel und ich habe oft vor Angst geweint. Sie zu verlieren, schien mir etwas vom Schlimmsten. Mit dem Tod meines Bruders starb auch ein Teil meiner Mutter. Diesen Verlust habe ich hautnah zu spüren gekriegt. Das Resultat ist wohl, dass ich sehr an Menschen hänge, die ich gerne habe. Ich bin nicht gut im Abschied nehmen. Es scheint mir manchmal so, als ob ein Teil von mir sich weigert, sich zu verabschieden, ganz egal ob es um eine Trennung, einen Umzug oder aber den Tod eines nahen Menschen geht.

Heute ist mir der Tod weniger fremd als früher. Einige meiner Freunde leben nicht mehr. Einige Arbeitskolleginnen leben nicht mehr. Irgendwann holt es dich ein und du kommst um einen Abschied nicht herum.

Auf Mutters Tod war ich trotz allem nicht vorbereitet. Ich habs vor mich her geschoben und in aller Konsequenz verdrängt. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Mit Omi ist alles anders. Wir haben oft geredet. Für sie war immer klar, dass sie als erste geht. Für sie schien alles logisch. Die Wünsche sind deponiert. Es sind nur wenige, aber ich hab sie in mein Herz geschrieben.

Die Demenz hat uns entfremdet. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, lernt sie mich von neuem kennen, während in mir die Erinnerung an meine Kindheit und an Omi, wie sie früher war, schwelt.
Die Demenz hat sie mir näher gebracht: Omis kindliche Seite, ihre Lebensfreude, die durch nichts zu zerstören ist.
Wer bin ich, denke ich, dass ich zweifle?

Omis grösster Wunsch ist, dass ich sie nicht vergesse. Nichts wäre ferner als dies, zu sehr hat sie mein Leben mitgeprägt und mir geholfen, meine Kindheit gesund zu überstehen. Sie hat mich mit ihrer Liebenswürdigkeit und ihrer Güte erzogen und mir immer das Gefühl gegeben, etwas besonderes zu sein. Mein Wunsch, dass sie mich nicht vergisst, ist nicht in Erfüllung gegangen. Aber vielleicht ist er auch zu hoch gegriffen. Liebe macht sich nicht in einem Namen oder der Erinnerung fest.

Ich bin froh, dass mein Omi trotz Demenz gesund ist. Dass sie sich an ihrem Leben erfreut. Dass sie keine Schmerzen hat. Aber ich weiss genau, wenn der letzte Weg ansteht, dann bin ich da bei ihr. Das ist unsere Abmachung. Und die halte ich ein.

Senfgelber Abschied auf Raten

Der erste bewusste Abschied in meinem Leben war wohl jener von meinem Bruder Sven. Ich erinnere mich an Szenen auf dem Friedhof und meine trauernden Eltern, Omi Paula, die mich weinend umarmt und tröstet. Ich verstand nichts. Ich war erst zwei. Der erste Abschied in meinem Leben war keiner, denn ich hatte Sven nie gesehen, nie in Händen gehalten und nicht begriffen, dass es ihn überhaupt gegeben hatte.

Ich hasse Abschiede. Ich mag mich nicht von Menschen trennen und wenn ich es tue, dann schnell mit einem glatten Schnitt.

Als mein Opa Walter starb, war ich nicht dabei. Die letzten Tage seines Lebens waren nur Omi Paula und eine Schwester der Spitex an seiner Seite. „Ich will nicht, dass du mich so siehst“, sagte er mir leise am Telephon. „So“ bedeutete sterbend. Senfgelb. Abgemagert. Dem Tode sehr nahe.
Ich habe Opa seit Weihnachten 1996 nicht mehr gesehen. Als er anfangs 1997 starb, war er meinen Augen fern, nicht aber meinem Herzen.

Den Abschied von meiner Mutter hätte ich beinahe verpasst.
Sie ist mir nämlich nach einem Streit gezielt aus dem Weg gegangen. Fast ein Jahr haben wir uns nicht gesehen, immer nur telephoniert. Immer gab es einen Grund, warum sie ein Treffen absagte oder gerade nicht zuhause war, wenn ich sie hätte besuchen können. Als ich sie auf der medizinischen Abteilung des Spitals besuchte, wo sie notfallmässig eingeliefert worden war, begriff ich auch warum. Sie war todkrank. Ihr Körper war senfgelb, ihr Bauch riesig, ihr ganzer Körper abgemagert.

Senfgelb ist für mich die Farbe des Todes. Ich hasse Senf und ich verabscheue den Geruch von frischer Leber.

Omi Paula und ich hatten immer gerne telephoniert. Wir hatten stundenlang Gesprächsstoff. Der Abschied fiel uns beiden jedes Mal schwer. Schliesslich kam ich auf die Idee, dass wir einen festen Ablauf für den Abschluss eines Gesprächs einführen sollten. Ich war damals acht Jahre alt, Omi 57.
„Wenn wir fertig sind, dann sagen wir einfach 1… 2… 3… Tschüüüüschüüüss und schicken Küsse durch das Telephon“, schlug ich ihr vor. Und so machten wir das. Fast 30 Jahre lang.

Irgendwann vergass Omi meinen Namen, dann meine Nummer und wie das Telephon funktioniert. Ich hasse diesen Abschied, der keiner ist.

Der Bahnhofstraum

Ich schlief seit gestern abend acht Uhr bis heute halb sechs einfach durch. Ich war erschöpft von der Woche, die sehr turbulent gewesen war.

Ich träumte wild.
Mit einem Mal trug ich wieder ein schwarzes Kleid und eine weisse Schürze, wie damals in der Lehre. Ich servierte in einem Café in einem grossen Bahnhof. Viele Leute kamen vorbei. Ich sah Freunde, die längst nicht mehr leben und die ich schmerzlich vermisse. Ich erkannte Freunde, mit denen ich keinen Kontakt habe und die mir furchtbar fehlen.

Dann trat Paula in mein Café ein. Sie trug ihren dunklen Mantel, ein hübsches Kleid und hatte die Haare elegant frisiert. In ihren Händen hielt sie einen Koffer und eine Reisetasche. Sie setzte sich und bestellte freundlich wie immer einen Milchkaffee. Ich war erstaunt und machte mir Sorgen, dass sie sich verlaufen haben könnte. Doch sie winkte ab. Sie sagte meinen Namen und erklärte mir, dass sie hier auf Tante Hadj wartet.

Ich schüttelte den Kopf, sagte ihr, dass Tante Hadj seit über einem Jahr nicht mehr lebt. Paula lächelte mich milde an.
„Tumms Züüg“, sagte sie.
Ich brachte Paula den Milchkaffee und ein Erdbeertörtchen, weil sie diese so gerne mag. Dann ging die Türe auf und meine Grosstante Hadj, Paulas Schwester trat ein.

Sie trug wie früher ihre Cat Eyes Brille, das dunkelblonde Haar offen und ohne ein graues Haar. Sie trug eine kleine Handtasche bei sich. Auch sie begrüsste mich freundlich, so als wenn nichts geschehen wäre. Sie setzte sich zu Paula und die beiden vertieften sich in ein angeregtes Gespräch.

Sie bestellten Früchtewähe und Käsetoast, denn das hatten sie auch immer im Café Abderhalden gegessen. Ich brachte es ihnen.
Nach einer Weile blickte Tante Hadj auf ihre goldene Damenuhr.
„Wir müssen, Paula“, sagte sie.
Paula nickte und dann stritten sich die beiden, wer jetzt Essen und Kaffee bezahlen dürfte. Das haben sie nämlich immer getan. Ich schaute ihnen zu und sagte:
„Das geht aufs Haus.“

Die beiden blickten mich überrascht an.
„Du bist mir aber eine“, sagte Paula.
Zum Abschied umarmten mich beide und bedeckten mich mit ihren feuchten Grossmütterküssen. Dann verliessen Paula und Hadj gemeinsam mein Café.

Vom langsamen Verschwinden

Vor sechs Jahren um diese Zeit war meine Mutter bereits im Pflegeheim. Sie war 56 Jahre alt und wartete auf ihren Tod.

Meine Mutter hatte die letzten 13 Jahre ihres Lebens in einer Einzimmerwohnung in der Stadt gelebt. Diese Wohnung war ihr ganzer Stolz. Sie nannte sie ihr „Wöhnigli“. Sie wohnte in einem alten Haus unter dem Dach.

Ihr grosses Bett stand in der Stube, daneben eine ausgeleierte Couch, ein scheusslicher Couchtisch mit einem Tischtuch drauf, welches voll von Brandflecken war. Sie besass ein kleines Bücherregal, sehr viel Nippes und einen grossen Fernseher.

Die Küche war in einem Nebenraum, klein aber fein, dahinter das Bad mit Klo.

Sehr oft sass ich bei ihr in der Wohnung, umgeben von Zigarettenrauch und Verzweiflung. Meine Mutter sinnierte beim Rauchen über ihre Liebhaber, mich, meine Schwester, meinen Bruder und die Vergangenheit. Die Scheidung von meinem Vater war nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Nichts desto trotz liebte meine Mutter das Leben.

Umso schlimmer war es für mich, als ich die Wohnung betrat im Wissen, dass sie nie mehr dorthin zurückkehren würde. Mit ihrer Leberzirrhose, dem Wasserbauch und den Atemproblemen konnte sie keine Treppen mehr steigen.

Es gibt nichts Traurigeres als die verlassene Wohnung eines Menschen, den man liebt. Sie riecht nach kaltem Rauch und verletzten Gefühlen.

Da meine Mutter längere Zeit arbeitslos war und kein Geld mehr hatte, war sie abhängig vom Sozialamt. Die Dame des Amtes machte Druck, damit ich so schnell als möglich die Wohnung räumte. Niemand könne vom Staat verlangen, und der Staat war in dem Fall wohl die Dame vom Amt, dass man Pflegeheim und die Wohnung zahle. Natürlich nicht. Für die Dame vom Amt war meine Mutter nichts anderes als eine Zahl und in Gedanken wahrscheinlich ein Stück Scheisse. Jedenfalls vermittelte sie mir dieses Gefühl.

Das Räumen war leichter gesagt als getan. Ich arbeitete 100% in der Betreuung. Daneben pflegte ich Paula und sorgte mich um meine Mutter. Das Räumen der Wohnung war ein Kraftakt. Mein Chef gab mir drei Tage frei, damit ich das bei guter Gesundheit schaffe. Dafür bin ich ihm ewig dankbar. Ich habe den Kraftakt nur mit Tränen geschafft. Mein Vater und seine Frau halfen mir dabei. Einige Tage nach der Räumung starb meine Mutter und ich blieb zurück mit einem Gefühl des Versagens. Viel lieber wäre ich so lange wie möglich noch an ihrer Seite gewesen, hätte gerne noch mit ihr geredet. Doch stattdessen schleppte ich Kartons und wusch das Nikotin von den Wänden.

Das letzte Telephonat mit ihr, am 15. Oktober 2007, zwei Tage vor ihrem Tod, bleibt mir in Erinnerung. Ich fuhr durch den dichten Thurgauer Herbstnebel, den Knopf im Ohr und redete mit ihr. Sie erzählte vom Besuch ihrer besten Freundin, einem Plüschtier, das sie erhalten hatte und meinte schlussendlich: „Zora, ich wollte dir einfach danke sagen, für alles, was du für mich getan hast. Ich habe dich sehr, sehr gern.“

Als sie zwei Tage später, nach einem 36stündigen Ringen mit dem Tod starb, schien die Sonne.